Neues vom Räuber Hotzenplotz
Otfried Preußler
Illustrationen von F. J. Tripp
Dieses Buch widme ich meinen
NEFFEN
UND NICHTEN
und allen Kindern, die Freude an Kasperlgeschichten haben
Der Mann mit dem roten Kragen
Einmal stand Kasperls Großmutter um die Mittagszeit am Küchenherd und briet Bratwürste. Neben der Bratpfanne stand ein großer Topf Sauerkraut auf dem Herd. Das Sauerkraut dampfte, die Würste brutzelten und das ganze Haus war von einem unbeschreiblich herrlichen Duft erfüllt. Daran konnte jedermann merken, dass heute Donnerstag war; denn am Donnerstag gab es bei Kasperls Großmutter Bratwurst mit Sauerkraut, Bratwurst mit Sauerkraut, das war Kasperls und Seppels Leibspeise. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte die Woche aus sieben Donnerstagen bestehen müssen – oder, noch besser, aus vierzehn. Deshalb kamen sie donnerstags immer besonders pünktlich zum Mittagessen nach Hause.
Umso merkwürdiger fand es Großmutter, dass sie sich heute verspäteten.
„Wo sie bloß stecken?", dachte sie. „Jetzt ist es schon drei Minuten nach zwölf, es wird ihnen doch nichts zugestoßen sein?"
Großmutter rückte die Bratpfanne und den Sauerkrauttopf vom Feuer. Dann öffnete sie den Topfdeckel ein wenig, um das Kraut abdampfen zu lassen. Im nächsten Augenblick war sie in eine mächtige Sauerkrautdampfwolke eingehüllt. Davon beschlugen die Gläser ihres Zwickers so stark, dass sie nichts mehr sah.
„Das ist wirklich zu dumm!", rief sie. „Wenn man schon einen Zwicker tragen muss, sollte man wenigstens durchsehen können!"
Geschwind nahm sie den Zwicker von der Nase, um ihn am Schürzenzipfel abzuwischen – da hörte sie Schritte auf dem Gartenweg, schwere, eilige Schritte, die ganz gewiss nicht von Kasperl und Seppel stammten. Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen und jemand kam in die Küche gepoltert.
„Na, na!", sagte Kasperls Großmutter. „Nicht so stürmisch, Herr Oberwachtmeister! Können Sie denn nicht anklopfen?"
Ohne Zwicker sah Großmutter alles nur ganz verschwommen. Aber so viel hatte sie doch gesehen, dass der Mann, der ihr da in die Küche gerumpelt war, einen blauen Rock mit silbernen Knöpfen und rotem Kragen trug, dazu Helm und Säbel – und dass es sich folglich um den Herrn Polizeioberwachtmeister Alois Dimpfelmoser handeln musste, den einzigen Menschen im Städtchen, der einen blauen Rock mit silbernen Knöpfen und rotem Kragen besaß.
„Das duftet ja ganz abscheulich gut hier!", sagte der Mann mit dem roten Kragen.
Die Stimme kam Großmutter zwar bekannt vor, doch es war nicht Herrn Dimpfelmosers Stimme. „Wer kann das bloß sein?", überlegte sie. Und vor lauter Überlegen vergaß sie vollkommen den Zwicker abzuwischen und wieder aufzusetzen.
Der Mann mit dem blauen Rock und den Silberknöpfen war unterdessen an den Küchenherd getreten und hatte die Bratpfanne mit den Würsten entdeckt.
„Bratwurst mit Sauerkraut!", sagte er hingerissen. „Vierzehn Tage lang Wasser und Brot – und jetzt Bratwurst mit Sauerkraut!"
Dann drehte er sich zu Großmutter um und drohte ihr mit dem Säbel.
„Los!", rief er. „Her mit den Bratwürsten und dem Sauerkraut, ich hab Hunger und bin in Eile!"
Kasperls Großmutter war empört.
„Erlauben Sie mal, Herr Oberwachtmeister – soll das vielleicht ein Spaß sein?"
Der Mann unterbrach sie in barschem Ton: „Machen Sie keine Geschichten, Großmutter – oder wissen Sie etwa nicht, wen Sie vor sich haben? Setzen Sie mal den Zwicker auf, aber ein bisschen rasch!"
„Ja doch, ja doch!" Großmutter wischte den Zwicker ab und setzte ihn auf. Im nächsten Augenblick wurde sie weiß im Gesicht wie ein frisch gewaschenes Bettlaken. „Ach du liebe Zeit – Sie sind das? Ich denke, Sie sitzen seit vierzehn Tagen im Spritzenhaus hinter Schloss und Riegel!"
„Dort hat es sich ausgesessen, Großmutter."
„Und wie kommen Sie an die Uniform und den Säbel? Wenn das der Herr Oberwachtmeister Dimpfelmoser erfährt!"
Der Mann mit dem Polizeihelm lachte und sagte:
„Das weiß der längst. Doch nun her mit den Bratwürsten und dem Sauerkraut oder Sie sollen mich kennen lernen, so wahr ich der Räuber Hotzenplotz bin!"
Kasperls Großmutter warf einen Blick auf die Küchenuhr, es war acht Minuten nach zwölf. Wo nur Kasperl und Seppel blieben? Sie nahm einen Teller aus dem Geschirrschrank und tat eine Bratwurst und einen Löffel Kraut darauf.
„Eine Bratwurst?" Der Räuber schlug mit der Faust auf den Tisch. „Sie sind wohl nicht recht bei Trost? Ich will alle Bratwürste haben – und alles Kraut, das im Topf ist. Verstanden?"
Was blieb Großmutter übrig? Sie legte ihm alle Bratwürste auf den Teller und stellte den Sauerkrauttopf daneben.
„Na also!", rief Hotzenplotz und verlangte, dass Großmutter sich zu ihm an den Tisch setzte. „Damit Sie mir keine Dummheiten machen. Mahlzeit!"
Großmutter saß auf dem Stuhl und musste zusehen, wie Hotzenplotz über die Bratwürste herfiel. Es waren im Ganzen neun Stück, wie an jedem Donnerstag. Er vertilgte sie ratze-putz, dass es nur so schnurpste. Das Sauerkraut aß er gleich aus dem Topf. Dass er dabei das Tischtuch bekleckerte, war ihm einerlei.
„Oh, das hat gut geschmeckt!", grunzte er, als er das Kraut und die Würste verschlungen hatte. „Ganz verdammt gut geschmeckt hat mir das, Großmutter! Und jetzt geben Sie mal hübsch Acht. Auf der Küchenuhr ist es gerade Viertel nach zwölf. Sie werden nun zehn Minuten hier sitzen bleiben und still sein, mucksmäuschenstill. Nach zehn Minuten dürfen Sie meinetwegen um Hilfe rufen – aber nicht eine Minute früher. Haben Sie mich verstanden?"
Großmutter gab ihm keine Antwort.
„He, Sie!", rief der Räuber Hotzenplotz. „Haben Sie überhaupt zugehört? Warum sagen Sie nichts?"
Großmutter konnte nichts sagen.
Sie saß auf dem Stuhl und rührte sich nicht.
Genau in dem Augenblick, als Hotzenplotz den letzten Zipfel der letzten Bratwurst vertilgt hatte, war sie ohnmächtig geworden – teils aus Ärger und teils vor Schreck.
Laßt mich raus!
Kasperl und sein Freund Seppel waren am Stadtbach zum Angeln gewesen, hatten aber nichts gefangen, außer einem alten Schneebesen und einer leeren Essigflasche. Den Schneebesen hatten sie wieder ins Wasser geworfen, die Flasche nicht. „Denn", hatte Kasperl gesagt, „daraus können wir eine Flaschenpost machen, wenn wir mal eine brauchen sollten."
Wie jeden Donnerstag wären sie auch heute besonders pünktlich zu Tisch gekommen, wenn sie nicht unterwegs eine merkwürdige Geschichte erlebt hätten.
Als sie über den Marktplatz gingen, hörten sie aus dem Spritzenhaus dumpfes Geschrei.
„Nanu?", sagte Kasperl. „Hotzenplotz scheint einen schlechten Tag zu haben. Horch, wie er flucht und schimpft!"
„Der schimpft nicht", erwiderte Seppel, „der ruft um Hilfe. Vielleicht hat er Zahnschmerzen oder Bauchweh."
Seit der Geschichte mit Großmutters Kaffeemühle war Kasperl auf Hotzenplotz schlecht zu sprechen. „Hoffentlich hat er Bauchweh und Zahnschmerzen", meinte er, „und dazu noch an jeder Zehe zwei Hühneraugen!" Trotzdem lief er mit Seppel zum Spritzenhaus, um zu hören, was es da gäbe.
Das Spritzenhaus hatte ein einziges kleines Fenster, das selbstverständlich vergittert war. Wenn man sich unter das Fenster stellte, verstand man die dumpfe Stimme recht gut.