Wach geworden, wanderte er über die weite Wiese, die voller Blumen war: Hahnenfuß, Margeriten, Blutwurz, Orchideen und Bibernelle. Er hatte neue Kraft gewonnen und fragte sich, welche Richtung er nun bei diesem merkwürdigen Ausflug einschlagen müßte. Am Uferhang lagernd, wo Baldriankräuter wuchsen, schrak er zusammen, als er wieder seine Freundin, die Goldammer, durch die Hecke flitzen sah. Sie sang:
El-ahrairah war darüber höchst verwundert, denn er hatte gedacht, er müsse jetzt die Zweite Kuh suchen, von der aber nichts zu sehen war. Doch er vertraute der Goldammer und wanderte weiter über die große Wiese. Er begegnete keinem anderen Tier und fühlte sich so sicher, daß er zwei Nächte lang im Freien schlief.
Am dritten Tag kam er an eine Stelle, wo das Gras abgefressen und zertrampelt war, und da gewahrte er vor sich den weißen Stier. Er hatte noch nie eine so edle Gestalt gesehen. Die großen Augen waren blau wie der Himmel, und die langen geschwungenen Hörner schimmerten wie reines Gold, und sein Fell war samtig weich und so weiß wie Wolken im Sommer.
El-ahrairah grüßte den Stier wie ein Freund, denn er sah dem Tier an, daß es ihm nichts tun würde. Sie setzten sich zusammen ins Gras und sprachen über Nichtigkeiten - über Blumen und Sonnenschein.
»Lebst du hier allein?« fragte El-ahrairah.
»Ach ja, ich bin allein«, antwortete der Stier. »Ich sehne mich nach einer Gefährtin, und vor langer Zeit hat mir Frith auch eine versprochen, die man die Zweite Kuh nennt. Aber ich kann nie zu ihr kommen, denn sie ist umgeben von einem Schluchtengürtel voller spitzer Steine und scharfeckiger Felsbrocken, die mir die Beine zerschneiden und die Hufe brechen. Ich lebe seit vielen Monaten hier, aber ich habe noch keinen Weg durch diesen grausamen Graben gefunden.«
»Zeig mir, wo das ist«, sagte El-ahrairah. »Ein Kaninchen kommt vielleicht durch.«
Der weiße Stier führte ihn dann lange über die Ebene, bis sie am Ende zum Rand der Schlucht kamen, von der er gesprochen hatte. Es war ein unübersehbares Meer von Steinen, so undurchdringlich wie ein Dornengestrüpp, und die Steine waren so spitz wie Stechginster.
»Das kann kein Stier der Welt überqueren«, sagte der weiße Stier, vor Kummer seufzend. »Und doch ist das der einzige Weg zur Zweiten Kuh.«
»Ein Kaninchen schlüpft oft durch, wo es einem Stier verwehrt ist«, meinte El-ahrairah. »Ich werde mal gehen, Freund Stier, und dir Nachricht bringen von dem, was ich finden werde.«
So machte sich El-ahrairah auf und zwängte sich zwischen den scharfen Felsbrocken hindurch, aber selbst für ein Kaninchen war das eine mühsame Sache. Oft war er gezwungen stehenzubleiben und sich erst einmal über den möglichen weiteren Weg klarzuwerden. So mühte er sich drei Tage lang ab, über Steine, die in seine Füße schnitten und über seine Flanken schrammten, als er sich hindurchquetschte. Aber am dritten Tag erreichte er bei Sonnenuntergang das Ende des Steinmeeres und kam auf eine Fläche, und dort sah er die Zweite Kuh, die ihn anblickte.
Sie war mager, mit einer so kummervollen Miene, daß sein Herz sofort vor Mitleid schmolz. Er begrüßte sie heiter, aber sie antwortete kaum und sagte nur, er könne hier gern versuchen, das Beste aus dem jämmerlichen Gras zu machen und hinter der nächstbesten Böschung schlafen. Am Morgen sprach er wieder mit ihr wie ein Freund, erzählte ihr von seiner Reise und dem weißen Stier, aber sie schien so geistesabwesend und niedergedrückt, daß er nicht wußte, ob sie ihn überhaupt verstanden hatte.
El-ahrairah blieb mehrere Tage bei der armen, unglücklichen Kuh und fand kein Mittel, um ihre düstere Stimmung zu vertreiben. Er folgte ihr eines Tages über das ausgedünnte Gras und sah in ihren Hufspuren scharfe Steine aus dem Boden hochschießen. Da erkannte er das Geheimnis ihrer Verzauberung. Das karge Land rings umher und - ja, und auch die abweisende, unüberquerbare Schlucht waren nichts anderes als ein Abbild ihres steinernen Herzens, dessen Ausstrahlung alles in Stein verwandelte.
El-ahrairah ging nun mit aller Macht daran, der Zweiten Kuh Trost und neuen Mut zu spenden. Er erzählte ihr von den seichten Gewässern bei Sonnenuntergang, in denen Elritzen schwimmen und wo ganze Kolonien von Sumpfdotterblumen glühen. Er erzählte ihr von Sauerampfer und Hahnenklee in den Wiesen, auf denen die Kühe an den langen Nachmittagen im Juni und Juli grasen und mit den Schwänzen wedeln. Er erzählte ihr von den neugeborenen Kälbchen, die herumsprangen und im Gras spielten. Er erzählte von allem, was ihm einfiel, um sie etwas fröhlicher zu stimmen.
Anfangs schien sie wenig von dem, was er zu sagen hatte, in sich aufzunehmen, aber als die Tage vergingen, der Regen fiel und die Sonne auf die öde Landschaft schien, wurde sie allmählich etwas munterer. Eines Nachts sagte sie endlich, wenn er sie geleitete, würde sie ihr Bestes tun, um die Schlucht zu durchqueren. Als sie am nächsten Morgen zum Rand der Schlucht kamen, siehe - da sahen sie die scharfen Steine zerbröckeln und grünes Gras aufsprießen. Ihr gequältes Herz war geschmolzen - und dies war die Wirkung davon.
Vorsichtig und behutsam führte El-ahrairah die Zweite Kuh in die Schlucht, die vor ihren Schritten aufbrach. Einen Tag und eine Nacht später kletterten sie langsam den jetzt mit Gras überwachsenen Hang der Schlucht hinauf, den Gundelreben und blauer Günsel schmückten, und oben stand der weiße Stier, der auf sie gewartet hatte.
Nun begann eine schöne, frohe Zeit, als El-ahrairah bei seinen Freunden auf der großen Ebene weilte. Er blieb den ganzen Winter und den nächsten Sommer, und als es Herbst wurde, brachte die Zweite Kuh ein wunderschönes Kälbchen auf die Welt, das sie Weißhorn nannte.
Weißhorn und El-ahrairah wurden gute Freunde, und an den Abenden erzählte er dem Kälbchen immer Geschichten über sein Gehege und über die Abenteuer, die er vor seiner jetzigen Suche erlebt hatte. Als er ihm eines Tages von dem Streich erzählte, den er dem Hund Rowsby Wuff gespielt hatte, flog die Goldammer zum Wacholderbusch und sang:
»O kleiner Vogel!« rief El-ahrairah. »Sag nicht, ich soll meine Freunde verlassen. Ich bin hier so glücklich.«
Doch die Goldammer antwortete nur singend:
Also teilte El-ahrairah seinen Freunden traurig mit, daß es für ihn nun Zeit wäre, wieder aufzubrechen, um die Dritte Kuh zu finden.
»Sei vorsichtig, El-ahrairah«, sagte der weiße Stier. »Sei vorsichtig und wachsam, denn nach allem, was ich höre, hat die Dritte Kuh nicht ihresgleichen. Sie lebt am Ende der Welt und kann die ganze Welt mit allem, was sie enthält, verschlingen. Warum willst du dich solch einer fürchterlichen Gefahr aussetzen? Bleib bei uns und sei glücklich.«
Das war eine große Versuchung für El-ahrairah, und er dachte lange darüber nach, kam aber am Ende zu dem Schluß, daß die Goldammer ihm die Wahrheit gesagt hatte und daß es nun tatsächlich Zeit für ihn sei, die Dritte Kuh zu finden.
»Dann nimm Weißhorn mit«, sagte die Zweite Kuh. »Er wird dein Gefährte und Beschützer sein und dir Gesellschaft leisten. Ich bitte dich allerdings nur, gut auf ihn aufzupassen. Er ist unserem Herzen sehr nahe. Aber es gibt nichts, was ich nicht für dich tun würde, mein liebes Kaninchen.«