So brachen die beiden auf, und wie mir berichtet wurde, war das die schlimmste Phase in allen Ausflügen von El-ahrairah, denn der Weg führte über Gebirge und durch angsterregende Regionen, die dick mit Eis verkrustet waren. Der Winter war hereingebrochen, und sie litten oft unter Hunger und Kälte. Hätte er sich nicht nachts an Weißhorn schmiegen können, wäre El-ahrairah gewiß erfroren. Selbst der kleine Vogel war gezwungen, sie zu verlassen, denn die Nächte waren kälter, als er es aushalten konnte.
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, bis der Winter zu Ende ging, aber schließlich kamen Weißhorn und El-ahrairah, dünn wie Wiesel, langsam das Hügelland hinunter und befanden sich im Land der Dritten Kuh.
Nun ist die Dritte Kuh allerdings selber das Ende der Welt. In diesem Land ist nichts, das nicht Dritte Kuh ist - Hörner und Hufe und Schwanz und Ohren. Sie hätten immer weiter wandern können und hätten sich stets auf dem Körper der Dritten Kuh befunden, denn sie füllte die ganze Welt aus und ist die ganze Welt. Viele Tage lang suchten sie den Kopf der Kuh, und schließlich fanden sie ihn auch - riesige Augen-und Nüsternformen und ein gigantisches aufgerissenes Maul, das wie eine Höhle war. Und die Kuh sprach zu ihnen mit der Stimme einer Höhle.
»Was willst du, El-ahrairah? Was suchst du?«
»Ich suche meine Jugend«, antwortete El-ahrairah.
»Ich habe sie verschlungen«, erwiderte die Dritte Kuh. »Ich habe sie verschlungen, wie ich alles verschlinge, was in der Welt ist. Mein Name ist Zeit, und kein Geschöpf entgeht mir.« Und damit gähnte sie und verschluckte den halben Tag.
In der Stille wandte sich El-ahrairah an Weißhorn, der schaudernd neben ihm stand.
»Ich werde meine Jugend finden.«
»Geh nicht, El-ahrairah«, bat ihn Weißhorn. »Sonst bist du verloren, ich weiß es. Bleib bei mir. Gehen wir doch zurück zu meinen lieben Eltern und leben dort auf der grünen Wiese.«
El-ahrairah sagte nichts mehr. Als die Dritte Kuh das Maul bei einem lauten Schnarcher aufmachte, stürzte er sich hinein und verschwand in der roten Höhle.
Niemand weiß, was El-ahrairah alles im Herzen und Magen der Dritten Kuh zugestoßen ist, denn es ist nie erzählt worden und wird nie erzählt werden. Es gibt keine Worte, um die greulichen Abenteuer dort unten zu beschreiben, die ihn wie gestaltlose Träume befielen, denn er befand sich mitten in allen Dingen, die vergangen waren, in allem, was die Dritte Kuh in vielen, vielen Jahren verschlungen hatte. Welche Gefahren hat er überstanden? Welche schauderhaften Spottgeburten hat er dort getroffen und in die Irre geführt? Was hat er da zu fressen gefunden? Wir werden es nie erfahren. Er wurde selber zum Traum, zu einem wandernden Bruchstück der Vergangenheit. Und ob er sich überhaupt daran erinnern konnte, wer er einmal gewesen war - die Legende verrät es uns nicht. Die Dritte Kuh ist jenseits von allem, was wir kennen, und jenseits des Fassungsvermögens eines jeglichen Kaninchens.
Als er am Ende lange durch die Eingeweide der Kuh gewankt und gestolpert war, erschöpft, zermürbt und ausgelaugt, kam er zu einem Steilhang, an dessen Fuß er ein schwaches Licht gewahrte. Und da lag ein See, ein leuchtender See mit goldener Milch. Das war nichts anderes als der Euter der Dritten Kuh, deren Milch die Segnungen aller Jahre enthält und die Wärme aller Sonnen, die je geschienen haben: Es ist der See der Jugend.
El-ahrairah stand staunend an diesem herrlichen See, und während er hinabblickte, überwältigte der wunderbare Anblick seine Sinne. Seine Pfoten glitten aus, und plötzlich fiel er kopfüber in die goldene Milch.
Er mühte sich paddelnd und strampelnd ab, denn er fand keinen Ausstieg. Er merkte, wie seine Kräfte ihn allmählich verließen. Er sank hinab, er ertrank, und er gab sich selbst auf.
Doch ganz zum Schluß fühlte er sich in eine glatte Röhre hineingezogen und von dort in einen warmen, nassen Mund. Im nächsten Augenblick lag er spuckend und würgend im Freien, auf warmem Gras. Neben ihm hing der runde Kuheuter. Weißhorn hatte ihn aus einer Zitze der Kuh herausgesuckelt.
Jugendglut und Jugendkraft befeuerten El-ahrairah. Er tanzte auf dem Gras. Er machte Freudensprünge auf den Steinen. Er sang Weißhorn etwas vor, ohne zu wissen, was er sang. Weißhorn sang mit, und singend wanderten sie zusammen nach Hause.
Der Heimweg war kurz, denn nun war es Sommer geworden, und sie kamen dreimal so schnell voran, weil sie wußten, daß ihre Abenteuer glücklicherweise vorüber waren.
Von El-ahrairahs Heimkehr weiß ich nur noch ein wunderliches Ding. Als er zu dem Ort kam, wo der verzauberte Wald der Ersten Kuh gestanden hatte, war nichts mehr davon zu sehen. Der Wald unter dem Down war genauso geheimnisvoll verschwunden, wie er aufgetaucht war, und niemand hat ihn je wieder gesehen. Nur eines war noch zu sehen: die Goldammer auf dem Weißdorn, die sang:
»Na ja«, sagte Bigwig, »das waren sicher keine gewöhnlichen Kühe. Ziemlich dämlich von mir, daß ich das zuerst gedacht habe, obwohl ich ja wissen mußte, daß es sich um ein Abenteuer El-ahrairahs handelte. Und was ist mit Weißhorn? Ist er auch alterslos geworden?«
»Die Legende sagt darüber nichts aus«, erwiderte Dandelion. »Aber ich bin sicher, El-ahrairah würde nie einen Freund vergessen, der ihm soviel bedeutet hat.«
3. Die Sache mit König Berser-Kerl
Bedenke, wo eines Mannes Ruhm beginnt und endet, und sag: Mein Ruhm war, daß ich solche Freunde hatte.
W. B. Yeats (The Municipal Gallery Revisited)
Der Regen fiel auf Watership Down aus langen, hochaufgetürmten Wolken, durchnäßte den Rasenboden und die Birken am Waldhang. Hazel und mehrere andere Kaninchen saßen gemütlich unter der Erde in ihrem Wabenbau; einige waren mit ihrer Körperpflege beschäftigt, andere unterhielten sich plaudernd über kommende Sonnentage. Kehaar, die Möwe, war vor ein paar Tagen aus dem Süden gekommen und rastete stillzufrieden auf halbem Wege in Hazels Gang.
»Wer erzählt uns was?« fragte Bigwig und kugelte sich über den Boden. »Dandelion?«
»Jetzt mal ein anderer zur Abwechslung«, sagte Dandelion. »Bluebell, erzähl uns die Geschichte, die du mir im vergangenen Jahr erzählt hast, die über El-ahrairah und den Krieg mit Berser-Kerl. Die haben sie alle noch nicht gehört.«
»Das war das einzige Mal, daß El-ahrairah Krieg führte«, sagte Bluebell. »Das erste und letzte Mal.«
»Hat er gewonnen?« fragte Silver.
»Natürlich hat er gewonnen. Aber wie er das gemacht hat, war wirklich raffiniert. Hätte er nicht gewonnen, wären wir nicht hier.«
Wir wissen alle - erzählte Bluebell -, daß Kaninchen niemals ernsthaft Krieg führen, und ganz bestimmt nicht El-ahrairah, der gar keinen Grund hatte und auf den Downs ein glückliches Leben führte. Doch eines Tages, als er sich draußen sonnte, schreckte er plötzlich zusammen. Rabscuttle wetzte über das Gras, und es war klar, daß er wichtige Neuigkeiten brachte.
»Meister!« keuchte Rabscuttle. »Da sind Tausende von Kaninchen, fremde Kaninchen, im Anmarsch. Genug, um den ganzen Down kahlzufressen und uns alle aus Bau und Heim zu werfen. Da gibt's nur eines - wir müssen wegrennen, solange noch Zeit ist.«
»Ich renne niemals weg«, erwiderte El-ahrairah lässig. »Ich muß mir diese fremden Kaninchen mal ansehen. Laß sie kommen!«
Kurz darauf sah er sie tatsächlich, Horden von Kaninchen, die über den Down kamen. El-ahrairah hatte noch nie in seinem Leben so viele Kaninchen auf einmal gesehen. Sie bedeckten das ganze Gras. In ihrer Mitte war ein übergroßes Kaninchen, so groß wie ein Hase, und das kam auf El-ahrairah zu und fletschte die Zähne.