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Belgien wurde im Mai 1940 von Deutschland überfallen und binnen einer Woche besetzt. Im selben Jahr wurde mein Vater eingeschult. War das für seinen Enkel von Belang? Belgien war über Jahrhunderte zwischen Deutschen und Franzosen aufgerieben worden. Es lag mitten in Europa. Seine Hauptstadt war zugleich Sitz des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission. Ich war nie in Brüssel gewesen.

Zwei alte Brüsseler Landschaftsmaler liebte ich. Ich mochte das tiefe, leuchtende Grün der Bäume und Büsche auf den Bildern von Lucas Achtschellinck. Man sah die Lanzettspitzen zweier Sträucher, als streichelten sie einem übers Gesicht. Und in dem ganzen Grün war etwas Braunes, ein Fleck, dort schlief eine Drossel. Jacques d’Arthois dagegen bewunderte ich, weil er kaum etwas anderes gemalt hatte als den Wald von Soignes. Er hatte dort ein Haus gehabt. Heute war Soignes eine Brüsseler Vorstadt, und den Wald gab es nicht mehr.

In Brügge war ich einmal zusammen mit meinen Eltern und Ira über hunderte Stufen den Glockenturm hinaufgestiegen, um hoch droben, weit über der Stadt, das frei stehende, tiefschwarze und wie lebendige Carillon des Belfrieds zu bestaunen. Bestimmt hätte es Jesse genauso gefallen, allerdings wohl kaum, wenn man den Glockenspielmechanismus bloß beschrieb.

Und von Ira wollte ich ohnehin nichts, oder noch nichts, erzählen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass sie den Jungen und mich mehr beschäftigen würde, als uns lieb sein konnte. Sie mochte Brel, der Belgier gewesen war.»Amsterdam «und» Il neige sur Liège «konnte sie mitsingen, ihr Lieblingschanson aber war Brels traurigstes. Wie in» Ne me quitte pas «einer darum bettelte, nicht verlassen zu werden, und dafür die ganze Schönheit der Welt in die Waagschale warf, das rührte sie zu Tränen, weil, wie sie sagte, das echte Stärke sei, allen Reichtum wegzugeben an jemanden, der nicht den Bruchteil davon verdiente. Wenn dann Jacques Brel diese treulose und obendrein mit der ganzen Welt beschenkte Geliebte anflehte, er wolle nur noch ein Schatten sein, und sei es der Schatten ihrer Hand, der Schatten ihres Hunds — dann konnte sie nicht anders und schluchzte.»Hörst du das? Wie selbstlos das ist?«Wenn wir uns meinen Katalog mit den Gemälden aus dem Wald von Soignes ansahen, hätten wir dort gern in einem Haus zusammengewohnt, wie Jacques d’Arthois eines gehabt hatte, und in die Nacht gelauscht. Jesse kannte weder Jacques d’Arthois noch Jacques Brel. Chansons waren in seinen Augen ausnahmslos was für Opas.

Kaum war ich in Belgien, fiel mir ein, wie wir damals nach der Besichtigung des Brügger Belfrieds auf dem Platz vor der Kirche in einem Straßencafé saßen. Starr vor Entsetzen blickte mein Vater auf ein schmales Glas Bier, während meine Mutter stumm die Rechnung bezahlte. Umgerechnet fünfzehn Mark sollte das Bier kosten. Mein Vater trank keinen Schluck davon. Ausgeraubt fühlte er sich, verspottet, und erklärte sich solidarisch mit dem von den Belgiern vergewaltigten Kongo. Wie unter den Augen seiner Frau und seiner Kinder zu Stein geworden, wartete er, bis unsere Colas leer waren, und schnaubte dabei Verwünschungen auf König Baudouin und Königin Fabiola.

«Ich bin mal mit zwei Freunden durch Belgien durchgefahren und hab in der Nacht damals ein echtes Abenteuer erlebt«, sagte ich.»Kann ich ja mal erzählen, falls es dich interessiert.«

Komme drauf an, gab Jesse zurück. Abenteuergeschichten würden ihn meistens langweilen.

Harry Potter und der magische Otter.

«Na ja, ein Abenteuer war es für mich deshalb, weil ich nicht drauf gefasst war, in einem Zug durch Belgien mitten in der Nacht eine fremde Frau kennenzulernen«, sagte ich,»geschweige denn eine, die ich hübsch fand, oder sogar schön, und die um einiges erfahrener war als ich.«

Er gab einen Laut von sich, der wohl skeptisches Staunen bekunden sollte. Langeweile und Neugier, Hinwendung und Abscheu, Überdruss und Gebanntsein. Alle Empfindungen schienen in ihm frei umherzuflottieren.

Seiner Miene war dabei so wenig zu trauen wie dem, was er von sich gab. Wenn Jesses Gesicht Begeisterung ausdrückte, war er in Wahrheit vielleicht zutiefst irritiert. Oder umgekehrt. Oder er war beides gleichzeitig, begeistert irritiert, sehnsüchtig angewidert, vor Neugier gelangweilt. Ich fragte mich, ob ich vor fünfundzwanzig oder dreißig Jahren in dem Nachtzug nach Mons einem ähnlichen Wirrwarr aus widerstreitenden Gefühlen ausgesetzt gewesen war. Vielleicht konnte ich mich deshalb an keine bestimmten Empfindungen erinnern. Wie alt bin ich gewesen?

Jesse fragte mich dasselbe. An das Gefühl, das man durch seine Kindheit und Jugend mit sich herumschleppte wie einen verhassten Ranzen, erinnerte ich mich nur zu gut. Alles drehte sich darum, wie alt man war.

«Sechzehn«, sagte ich, obwohl ich mir nicht sicher war. Ich hielt es für besser, auch damals älter gewesen zu sein als er.

«Und deine Freunde?«

«Wir waren ungefähr gleich alt. Und Freunde … vielleicht waren wir auch nur Klassenkameraden.«

Ich erzählte Jesse, dass einer der beiden auch heute noch ein guter Bekannter von mir war und dass wir ohne ihn jetzt nicht in die Normandie fahren würden. Für Kevin, für das Magazin, bei dem er arbeitete, solle ich die Brücken zeichnen. Aber damals, wie gesagt, sei er sechzehn gewesen, wie ich und wie der andere Junge aus der Klasse, Gordian, zu dem wir Gordy sagten, weil keiner seinen Namen mochte, er selber am wenigsten.

«Gordy, Kevin und Marky Mark in Belgien — sehr spannend!«Jesse amüsierte sich, zumindest hatte es den Anschein. Ich fragte mich, wie er sein Phlegma so schnell abschüttelte.»Und diese Frau?«

«Zu der komm ich gleich, wart’s ab. Durch Belgien sind wir bloß durchgefahren, so wie wir jetzt. Wir waren auf dem Weg ans Meer, an die französische Atlantikküste. In der Nähe von Arcachon gab es einen großen Campingplatz, auf dem mehrere Mädchen aus unserer Klasse mit ihren Eltern die Ferien verbrachten, da wollten wir hin. Eigentlich hatten wir trampen wollen, per Anhalter fahren — eine Fortbewegungsart aus dem letzten Jahrhundert.«

«Ganz spontan, ne«, höhnte Jesse.»Echt dufte Hippies, ne.«

«Nicht wirklich. Wir schleppten Zelte, Kocher, Schlafsäcke, Isomatten und sogar einen Verbandskasten quer durch Europa. Jeder hatte einen Riesenrucksack. Meiner war voller Konservendosen. Wir waren spontan und superflexibel, weil wir ein mobiles Ravioli-Einsatzkommando waren. Pech, dass wir keinen Dosenöffner hatten. Wir hatten nur Kevins Schweizer Taschenmesser, mit dem er sich auch die Fußnägel schnitt.«

«Und ihr habt gekifft.«

«Quatsch«, sagte ich.»Wir waren sechzehn.«

Natürlich hatten wir gekifft, roten Afghanen. Und die Asche eines Joints hatten wir uns manchmal unter die Augen gerieben, damit wir so gespenstisch aussahen, wie wir uns fühlten.

«Und ihr habt getrunken.«

«Nein, auch nicht.«

Natürlich hatten wir getrunken, Wein, Bier, alles, was wir in die Finger bekamen, sogar Eierlikör, wenn nichts anderes da war. Gordy soff am meisten und vertrug am wenigsten. Alkohol machte ihn so fies und ordinär, dass man den Eindruck nicht loswurde, ein spießiges Rumpelstilzchen rückte einem auf den Leib. Kevin und mich beschimpfte er gern als schwule Spastiker, und das war keine seiner unflätigen Beleidigungen. Dabei war Gordian Rogalla ein echter Sonnyboy, wie meine Mutter gesagt hätte. Hochaufgeschossen und blond, mit ansteckendem breiten Grinsen, so drückte einen der Junge aus der Wasserball-AG an die Brust. In seinem vernarbten Innern aber lauerten der Jähzorn und die Lust zu quälen, und lauter geplatzte Äderchen in seinen Augen kündigten es an, wenn sich Gordy ab der zweiten Flasche Bier in einen weißzahnig lächelnden Sadisten verwandelte.

«Wegen unserer Rucksäcke waren wir jedenfalls so gut wie transportunfähig. Kaum einer nahm uns mit, es war einfach nicht genug Platz in den Autos«, erzählte ich weiter.»Wir brauchten drei Tage, um von Hamburg nach Köln zu kommen. Wir schliefen unter Autobahnbrücken. Tagsüber war es heiß, aber nachts kroch die Kälte zu einem in den Schlafsack. Wir beschlossen, uns entweder zu trennen oder wenigstens bis Paris den Zug zu nehmen. Und weil uns auch in Köln keiner mitnahm, haben wir das schließlich gemacht.«