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«Ja, das auch. Es war krass. Das Beste, was mir passieren konnte. Und einer der rätselhaftesten Momente, an die ich mich überhaupt erinnere. Ein Augenblick, in dem das Blatt sich wendet, wie man so sagt. Schon komisch: Es war nicht weit von hier.«

Irgendwann hatten Ira und ich uns ein Porträt im Fernsehen angesehen: Der vom Krebs gezeichnete Brel zeigte einem Kamerateam seine liebsten Orte in Belgien. An einem Zaun lehnend sagte Brel, es sei ein Irrtum, die Kindheit für einen Zeitabschnitt zu halten. Die Kindheit sei ein Ort.

Inzwischen lag Namur hinter uns. Auf der Autoroute de Wallonie fuhren wir auf Charleroi zu, und die nächste größere Stadt, die letzte belgische vor der Grenze, würde Mons sein. Keine Stunde mehr, und wir waren in Frankreich.

Eigentlich wollte ich nur nicht über Ira sprechen, deshalb redete ich weiter. Und weil Jesse wissen wollte, was weiter passiert war, erzählte ich es ihm, auch wenn ich mich vielleicht lächerlich machte. Ich erzählte von dem weißen Lederrock und dem weißen Seidenschal, mit dem meine Finger spielten, während mein Kopf auf dem fremden Schoß lag. Der Rock roch wie eine Tierhaut.

Ich wollte Jesse deutlich machen, woher mein Mut kam, die Frau zu streicheln. Begierde und Begehren seien nicht dasselbe, sagte ich. Aber er glaubte mir nicht, und ich beließ es dabei, weil ich es im Grunde selber nicht glaubte. Nur war es so passiert. Sogar die Strumpfhose meinte ich noch an den Fingerkuppen zu spüren.

«Do not do that«, flüsterte sie mit starkem Akzent und schob meine Hand zurück. Aber sie nahm sie nicht ganz weg, und so ging es von neuem los, während mal sie einnickte und mal ich und während Kevin Brennickes Schnarchen das Abteil erfüllte.

Mehr war eigentlich nicht passiert. Vergeblich suchte ich in Jesses Miene nach Spuren von Enttäuschung oder Spott. Er warf mir einen seiner maliziösen Seitenblicke zu, nahm es ansonsten aber voller Gleichmut hin, dass mein Abenteuer wohl keinen echten Höhepunkt hatte.

«Nur einmal hat sie auch mich gestreichelt«, sagte ich, um die Geschichte zu Ende zu bringen.»Draußen wurde es schon hell, als sie mir die Hand auf den Kopf legte und sagte, sie müsse aufstehen. Sie wollte sich frisch machen, bevor sie ausstieg. ›Now this is your place and you can sleep‹, sagte sie.«

«Wie jetzt? Die wollte gar nicht nach Paris?«, fragte Jesse.

«Nein. Sie war Belgierin. Und sie wollte nach Mons.«

«Und deswegen willst du auch dahin, alles klar.«

«Als der Zug in Mons hielt und sie ihre Sachen aus dem Abteil holte, wachten alle auf. Es roch nach Schlaf und alten Socken, das weiß ich noch. Ich stand in der Gegend rum und wusste nicht, wohin mit mir. Ich war todmüde, todtraurig.«

«Und sie ist einfach ausgestiegen«, sagte Jesse vorwurfsvoll, bestätigt in seiner jahrzehntealten Erfahrung, dass von einer Frau nichts anderes zu erwarten war.

«Belgien!«, schnaubte er verächtlich.

«Ich glaube, ein bisschen war sie auch traurig. Sie gab mir die Hand. Und sie schenkte mir etwas von sich.«

«Ach? Und was?«

«Werd ich dir nicht sagen. Bloß etwas zur Erinnerung. Dann küsste sie mich auf die Wange und ging. Ich sah sie draußen davongehen, während Gordy mich immer wieder auf den Arm boxte und Kevin wissen wollte, wieso die Frau mich geküsst hatte. Und das war’s.«

«Cool. Die werden geglotzt haben. «Jesse lachte.»Würd ich auch, wenn eine fremde Frau plötzlich einem Freund von mir was schenkt und ihn küsst. Niels zum Beispiel. Obwohl den keine küssen würde.«

«Haben sie. Und sich ordentlich lustig gemacht. Später gab es allerdings ziemlich Streit mit Gordy, auch wegen der Frau in dem Abteil. Denn unsere Ferien zu dritt, die waren für mich irgendwie schon vorbei. Ich konnte immer nur an sie denken. Ich hab versucht, sie zu zeichnen — kläglich. Und bis heute, siehst du ja, ist Belgien für mich vor allem die Geschichte von dem Nachtzug nach Mons.«

Damals in dem Zug hatte ich die Angst vor der Dunkelheit zum ersten Mal verloren, und die Furcht, von jemandem berührt zu werden, der mir fremd war, und ihn auch selber zu berühren, war mit verschwunden, denn sie gehörten zusammen, sie waren Angstgeschwister. Jesse erzählte ich das nicht. Ich fragte mich, wo die Zeichnungen geblieben waren, die ich noch zehn Jahre später von der Belgierin gemacht hatte. Tuschzeichnungen waren es, und wirklich kläglich waren sie nicht, nur drückten sie nichts von dem aus, was ich erlebt und empfunden hatte. Aber das gelang ohnehin selten. Kläglich war bloß die Erinnerung.

Jesse fragte, ob ich mir schon mal vorgestellt hätte, wie alt die Frau heute sei — Mitte sechzig, wenn er richtig rechne.

«Ich meine … warum willst du dahin, nach Mons?«Er betonte den Namen der Stadt so, dass er absurd klang, wie der Name eines erfundenen Ortes.»Doch nicht, um eine Oma zu treffen. Oder doch? Du hast ja grad keine Freundin. Soweit ich weiß, war deine letzte meine Zahnärztin!«Er lachte.

Echt witzig. Es waren nur noch wenige Kilometer bis Ville-sur-Haine, wo die Autobahn sich teilte und eine Trasse hinunterführte zur Altstadt von Mons. Dort hatte ich in einem kleinen Hotel ein Doppelzimmer reserviert.

Nein, ich hatte im Moment keine Freundin, zumindest keine feste. Ich hatte gelegentliche Freundinnen, schon seit Jahren, hatte mich mit diesem Zustand arrangiert und konnte mich nicht beklagen. Jedenfalls laborierte ich schon lange nicht mehr an einem Luststau. Ich hatte bloß keine Lust, über die Frauen nachzudenken, die sich mit mir abgaben, und von ihnen erzählen wollte ich noch weniger, am wenigsten von seiner Zahnärztin.

«Ich will sie ja nicht treffen. Abgesehen davon, dass ich gar nicht weiß, wie sie heißt, und sie bestimmt nicht wiedererkennen würde.«

«Und wieso willst du dann bitte nach Mons?«

«Will ich gar nicht mehr. Ich hab’s mir anders überlegt. Es ist gerade vier. Wenn wir weiter so gut durchkommen, schaffen wir’s rechtzeitig bis Bayeux. Spätestens gegen zehn sollten wir am Hotel sein, sonst schlafen die vielleicht schon oder lassen uns nicht mehr rein. Ich weiß nur nicht, ob wir im Dunkeln den Weg finden. Auf der Karte sieht es da ziemlich ländlich aus.«

Jesse gab sich alle Mühe, sein inneres Triumphgeheul nicht nach außen dringen zu lassen. Er lächelte mild und verständig. Fast unmerklich beendete er sein trotziges Langeweilefläzen und setzte sich aufrecht hin, ein verlässlicher, erfahrener, auf alle Eventualitäten vorbereiteter Beifahrer.

«Wir können Niels anrufen. Sein Vater hilft uns mit dem Weg, ist doch wohl klar.«

«Klar ist bloß«, sagte ich,»dass du mir helfen wirst.«

Und ich sagte, ich hätte zwar gern den Bahnhof von Mons gesehen, könnte das aber genauso noch in acht Tagen machen, auf der Rückfahrt.

Jesses Zahnärztin war auch die seiner Mutter gewesen, und ich hatte Ira des Öfteren zu Dr. Fuerstner begleitet. Vor einigen Monaten war ich ihr am Neuen Pferdemarkt in die Arme gelaufen. Birgit Fuerstner war nicht nur Zahnärztin, sondern kaufte auch Kunst, um sie in ihrer Praxis auszustellen. Ein paar Mal gingen wir etwas trinken und sprachen über Kafka, dessen Zeichnungen sie begeisterten. So wie mich, fahl und sarkastisch, stelle sie sich den Jäger Gracchus vor, sagte sie. Wir kamen überein, dass ich ihr zwei von Kafkas Zeichnungen großformatig nachzeichnete und variierte, wenn sie mir dafür die Adresse eines Arztes in Südengland beschaffte, der mit Vornamen Mati hieß. Biggy Fuerstner — der Name auf dem Klingelschild erinnerte mich an das Fräulein Bürstner aus dem Prozess, und genau wie K. seine Nachbarin übers ganze Gesicht küsst, ehe er die Lippen lange auf ihrer Gurgel liegen lässt, machte ich mich in dem dunklen Treppenhaus in der Isestraße wie ein durstiges Tier über das endlich gefundene Quellwasser her.

Meine Freundin aber war Dr. Fuerstner nicht geworden. Unser Verhältnis blieb auf eine Nacht beschränkt. Laut Ärzteregister praktiziere kein Arzt mit Vornamen Mati in Südengland, schrieb sie mir in einer SMS. Ich hatte Kafkas Sichelreiter und den am Schreibtisch Verzweifelnden für sie nachgezeichnet und ihr die Bilder in die Praxis gebracht. Und das war alles gewesen. Vielleicht würde ich Jesse von meinen Freundinnen erzählen, wenn er zwanzig war. Dann war ich über fünfzig, und was ich zu erzählen hatte, würde ihn, zu Recht, kaum noch interessieren.