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Kurz vor Ville-sur-Haine seufzte er, das sei doch alles Unsinn, ich solle hier rausfahren. Wie viel Zeit würden wir schon verlieren.

«Wie du meinst. Wer hat dir eigentlich gesagt, dass deine Zahnärztin und ich was miteinander hätten?«

Mit gekonntem Kopfzucken warf er die Haare zurück:»Man hat so seine Informanten. He, Marky Mark! Ich will jetzt deinen Bahnhof sehen!«

9

Ich erkannte den Bahnhof von Mons nicht wieder, hatte ihn allerdings von außen auch noch nie gesehen. Er war ein grauer, strenger Klotz mit einer riesigen drohenden Uhr überm Portal und zwei Anbauten, die zwar etwas niedriger, aber genauso schmucklos quaderförmig waren. Versuche, so einen Klotz zu zeichnen, sagte ich mir, und du bist verloren, entweder so wie eine Wildgans, der auf dem Flug nach Süden ihr Keilgeschwader abhandengekommen ist, oder so wie der Chinese, der in seine Zeichnung von einem Schneehang hineinsteigt, wo schön gestrichelt Wildgänse über ihn hinwegfliegen. Ein paar Minuten lang suchte ich auf dem Vorplatz nach einer Parklücke. Als wir ausstiegen, bat ich Jesse, mir zu helfen, eine Wolldecke über unseren Krempel auf der Ladefläche zu ziehen. Und kaum war das erledigt, griff ich in meine Sporttasche, zog den weißen Seidenschal heraus und stopfte ihn mir in die Jackentasche.

Durch die in den Feierabend strömende Menge bahnten wir uns einen Weg zum Eingang. Jesse blieb vor einer Gedenkplakette stehen und übersetzte sie mir, eine Demonstration seiner Französischkenntnisse. Die Tafel erinnerte daran, dass das alte Bahnhofsgebäude 1944 von Bombern der US Air Force zerstört worden war, deren Besatzungen annahmen, schon über dem Rheinland zu sein.

«Friendly fire«, sagte er und ging durch das Portal voraus in die Schalterhalle.

Kalt war es darin. Das Raunen und die Schritte der Leute hallten durch den zugigen Raum. Ich stellte mir vor, frühmorgens hier anzukommen, wenn alles leer war und so grau und verschlossen, wie man sich nach einer durchwachten Nacht auch selber fühlte. Jesse zeigte mir voller Eifer den Weg zu den Bahnsteigen. Es gab sechs oder acht. Ob ich mich an irgendetwas erinnern könne, wollte er wissen, und ich schüttelte den Kopf, blickte desillusioniert auf Kioske und Imbissstände und folgte ihm dann zur Rolltreppe, die zu den mittleren Gleisen hinaufführte.

Aber auch dort erkannte ich nichts wieder. Zement, Asphalt und Schotter. Von Backsteinen geplatzter Verputz. Die Schienenstränge, die Stützpfeiler. Das letzte Projekt meines Vaters, bevor er in den Ruhestand ging, war der Umbau des Bielefelder Bahnhofs gewesen. Ob in Mons oder Bielefeld, alles sah aus wie auf dutzenden Bahnhöfen, durch die ich hindurchgerattert oder wo ich mal ausgestiegen war. Es gab keine Einzelheit, an die ich mich erinnerte, und deshalb nichts, wonach ich suchen konnte. Bloß das weiße Lederkostüm sah ich vor mir, leuchtend im Halbdunkel auf einem Bahnsteig im Morgengrauen vor dreißig Jahren.

«Komm, ich hab alles gesehen«, sagte ich und fuhr mir dabei durchs Haar, weil es mit einem Mal nass war, so als würde es im Innern des Bahnhofs nieseln.»Lass uns los. Wir gehen beide zur Toilette und kaufen dann noch was für unterwegs, einverstanden?«

Ob ich mir sicher sei, dass es hier war, fragte er und machte sichtlich gut gelaunt ein Wortspiel mit Mons und Monstern.

Ich nickte stumm, zündete mir trotz oder wegen des Rauchverbots eine Zigarette an und war schon auf dem Rückweg zur Rolltreppe, als ich sah, dass ein Zug einfuhr. Gleich würde es auf dem Bahnsteig voll werden, und die Vorstellung, mich durch eine Menschenmenge schieben zu müssen, verursachte mir ein flaues Gefühl im Magen. Ich zog den Schal aus der Tasche, er war noch immer so weiß und weich wie damals im Zug. Als ich einen Abfalleimer sah, warf ich ihn hinein. Ich fing an zu laufen, lief mit meinem silbernen feuchten Haar am Spiegel eines Fotoautomaten vorbei, rief dabei nach Jesse und war erstaunt, als er an mir vorbeispurtete.

«Opa hat mal was Schönes gesagt«, meinte er, als wir hinunterfuhren.»Er meinte, dass man vielleicht alle Uhren auf der Welt gleichzeitig zurückdrehen kann, dass aber die Zeit doch immer weiterläuft.«

«Ja«, sagte ich,»stimmt«, und sah in seinem Gesicht, dass er wusste, dass ich wusste, dass seine Mutter das gesagt hatte. Ich konnte Iras Ausspruch trotzdem nicht auf mich beziehen. Ich war kein Nostalgiker. Ich war geradezu versessen darauf, mitzuerleben, wie die Zeit verging und wie die Welt und ich älter wurden.

«Dein Opa ist ein kluger Mann. Er hat viel durchgemacht, weißt du, aber er hat nie aufgesteckt«, sagte ich.

Das wisse er, denn Opa erzähle ihm ja viel, sehr viel sogar, sagte Jesse. Dabei lächelte er in sich hinein, und ich wusste zwar nicht, wieso, doch ich hatte in diesem Moment das deutliche Gefühl, seine Gedanken lesen zu können. Es war das erste Mal. Ohne ein Wort von ihm wusste ich, dass er an die Mardergeschichte dachte, eine Geschichte, die mein Vater hütete wie einen Schatz.

Irgendwie war ich Jesse dankbar. Seine kleine Lüge von den Uhren ließ mich für ein paar Momente wieder so alt sein, wie er selber war. Und mit einem Lächeln konnte ich es dann sogar verschmerzen, durch die Schalterhalle zu gehen und mir dabei vorzustellen, dass damals auf ihren Korkschuhen auch die Belgierin hier gegangen war und seither nie wieder an mich gedacht hatte.

10

Bei Saint-Aybert fuhren wir auf der E19 über die Grenze und nach Frankreich hinein. Es war ein strahlend schöner Spätnachmittag. Auf den Bäumen in der Ferne glitzerte silbernes Licht, und ich sah mehrere große Vogelschwärme über den Feldern in der Gegend um Valenciennes. Zuerst nahm ich an, es wären Krähen oder Dohlen. Wenig später hielt ich an einer Raststätte und hörte, während der Diesel in den Tank floss, lautes an- und abschwellendes Singen und Schimpfen in einer Reihe alter Sommereichen, die die Autobahn säumten und deren Wipfel leicht im Wind schwankten. Darin saßen tausende Stare.

Wir kamen an Cambrai vorbei und in die Picardie, wo wir über die E15 ein Stück nach Süden fuhren. Jesse meinte, ich solle doch mal Speed geben, und weil auf der frühabendlichen Autobahn nicht viel Verkehr war, zeigte ich ihm, was in dem alten 300 TE steckte. Bei Feuillères rauschten wir mit 190 Sachen über die Somme. Jesse kurbelte das Schiebedach auf und streckte eine Hand hinaus in die beginnende Dämmerung. Der Fahrtwind war so stark, dass er sie mit der anderen stützen musste.

«Siehst du den Fluss?«, schrie ich und zeigte auf die grünen Kurven, in denen sich die Somme vorbei an Äckern, Wäldchen und Weilern durch das Hügelland schlängelte.

«Sein Name heißt übersetzt Nickerchen«, rief er,»und genau so sieht er auch aus!«

Kurz hinter Deniécourt bogen wir nach Westen auf die E44 Richtung Amiens. Nach kurzem Geplänkel einigten wir uns, Joy Division zu hören, die einzige der zwanzig CDs im Handschuhfach, die Jesse akzeptabel fand. Wir sprachen darüber, dass sich wie Kurt Cobain von Nirvana auch Ian Curtis, der Sänger von Joy Division, das Leben genommen hatte.

«Und wie?«

«Vergessen«, sagte ich.»Er hatte ein kleines Kind mit seiner Frau und eine Liebesaffäre mit einer jungen Belgierin.«

«Belgien bringt nur Unglück in die Welt«, meinte Jesse.

«Außerdem war er depressiv und Epileptiker. «Ich sah Ian Curtis vor mir, sein ruckartiges Tanzen mit rudernden Armen hinter dem Mikro. Er hatte sich an der Küchendecke erhängt, an einer Vorrichtung zum Trocknen der Babywäsche.

Stumm hörten wir eine Zeit lang auf die Musik. Doch ich merkte, wie ich unkonzentriert wurde und dass mir allmählich die Puste ausging. Einmal fielen mir die Augen zu. Der Schreck darüber und die Erleichterung, dass Jesse nichts bemerkt hatte, ließen mich für eine Viertelstunde noch mal hellwach sein.