Dann aber bat ich ihn, auf der Straßenkarte die Grenze zwischen Picardie und Normandie zu suchen, ein Flüsschen namens Bresle. Bis dahin wollte ich fahren, dann Rast machen, etwas essen und trinken und mir die Beine vertreten. Jesse nahm die Karte. Wie ein goldener Vorhang fiel ihm die blonde Mähne ins Gesicht, während er nach einem geeigneten Fleck, einer ruhigeren Landstraße in Autobahnnähe, einem Park, Wäldchen oder See in meiner und seiner Vorstellung suchte.
Amiens lag schon hinter uns, als er noch immer nichts gefunden hatte. Mittlerweile war ich wirklich ausgelaugt, verdrossen und gereizt. Es wurde dunkel, wenn auch zum Glück nur langsam. Doch ich konnte die Nacht spüren, ich sah sie in den Bäumen und wie die Vögel Reißaus vor ihr nahmen. Vor Hunger und Unlust, weiter und immer weiter fahren zu müssen, sagte ich nichts mehr, wünschte stattdessen, ich hätte mich über Jesses trotzige Einwände hinweggesetzt, wäre in Mons geblieben und hätte das weiche Licht genutzt, um mit Zeichenblock und Rapidograph durch die Altstadt zu streifen. Immer noch ging mir die Belgierin nicht aus dem Kopf, der Schal, den sie mir geschenkt hatte, das Lederkostüm, Gordy und unser nicht wiedergutzumachender Streit, und doch erschien mir alles, woran ich mich erinnerte, mit einem Mal nichtssagend und überflüssig. Es kam mir aberwitzig vor, dass ich dem Jungen fast den ganzen Weg durch Belgien hindurch davon erzählt hatte.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, wechselte Jesse eigenmächtig die CD. Aus seinem Rucksack, meinem Geschenk, kam Nevermind von Nirvana zum Vorschein, und ich war außerstande, Einspruch zu erheben. Der Stumpfsinn hüllte mich ein. Quälend schleppten sich die Minuten dahin. Wenn ich mir klarmachte, dass mir Nirvana schon seit zwanzig Jahren auf die Nerven fiel, wusste ich nicht, was mich mehr peinigte, Kurt Cobains Krakeelen oder meine Unfähigkeit, Frieden damit zu schließen.
Mit einem Mal aber war er so weit.
«Okay, ich glaub, ich hab da was aufgetan«, sagte er und fing in seiner wundersam vollendeten Aussprache an, die Namen der Ortschaften herunterzurasseln, die an der Grenze zwischen Picardie und Normandie lagen und die für eine Rast am Straßenrand in Frage kamen.
«Der erste größere Ort heißt Aumale, er liegt direkt an der Bresle«, sagte er mit einem Finger auf der Karte und ohne mich anzusehen.»In der Nähe gibt’s nur wenige Dörfer, Coppegueule, Morienne und Rivery zum Beispiel. Richtung Norden, bloß ein paar Kilometer entfernt, wird’s interessant, weiclass="underline" Zwischen Rivery und Marescot liegt ein kleiner See, Etang l’eauette heißt der, steht hier. Ich glaube, ein ›étang‹ ist ein Weiher oder Teich. Ich finde, das hört sich gut an. Klingt nach Enten und Forellen, des canards et des truites.«
Das hörte sich wirklich gut an, da musste ich ihm recht geben. Es war gut, ein Ziel zu haben und, dort angekommen, Rast zu machen. Waren wir erst in der Normandie, blieben uns noch anderthalb Stunden Fahrt bis Le Havre, dann noch eine letzte Stunde bis Bayeux. Ich sah aufs Armaturenbrett. Es ging auf halb sechs. Eine halbe Stunde Ruhepause eingerechnet, würden wir mit Glück noch vor zehn beim Hotel sein. Am Morgen könnte ich früh aufbrechen. Ich würde allein nach Souleuvre fahren, den ganzen Tag würde ich Zeit haben, um die Viaduktruine zu erkunden.
Aber es hörte sich auch deshalb wirklich gut an, weil Jesse die Namen so schön aussprach.»Chamy«,»Montmarquet«,»Blagniel«, sagte er und überprüfte damit die Übereinstimmung von Straßenkarte und Ausfahrtsschildern.
«Es müsste jetzt bald eine ziemlich große Brücke kommen. Die führt über die Bresle. Danach kommt Aumale. Da musst du raus«, sagte er und zupfte dabei auf seiner Luftgitarre den Basslauf von» Come as you are «mit, der Hymne seines Freundes Niels.
Es hatte wenig Sinn, Jesse klarmachen zu wollen, dass zumindest das Gitarrenintro des Songs von Killing Joke abgekupfert war. Ebenso wenig hätte man Niels davon überzeugen können, dass dessen Lieblingscombo Green Day schon immer nach dem Punk der Stiff Little Fingers aus den frühen Achtzigern klang.
«Echt? Nicht gut. Aber weißt du was: egal!«, hätte einer von beiden gesagt. Und dass sie Killing Joke nicht kannten. Und dass Killing Joke ein total bescheuerter Bandname sei. Authentizität war ein Kriterium von vorgestern. Todbringender Witz. Steife kleine Finger. Was waren das für Bandnamen verglichen mit Nirvana, dem großen Nichts?
Ira hatte fließend acht Sprachen gesprochen. Am Lenkrad in mich selbst versunken, eine Pause herbeisehnend und immer begieriger die Ausfahrtsschilder lesend, versuchte ich mich wach zu halten, indem ich die acht im Stillen aufzählte und in alphabetische Reihenfolge brachte: Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch und Spanisch. Sie hatte in jedem Land, in dem sie sich länger aufhielt, binnen dreier Monate die Sprache gelernt. Oft war sie weitergereist, kaum dass sie das Gefühl hatte, die Landessprache zu beherrschen. Irgendwann warf sie sich selber vor, im Grunde nicht an fremden Ländern und Menschen interessiert zu sein, sondern nur am Lernen einer neuen, einer weiteren Sprache.»Wenn ich sie kann, hake ich sie ab«, sagte sie.»Wohin als Nächstes?«
Dieses fragwürdige Talent, wie sie es selbst nannte, schien sie an ihren Sohn weitergegeben zu haben. Jesse war gut in der Schule, doch die meisten Fächer langweilten ihn bloß. Zum Leidwesen seines Großvaters interessierten ihn die naturwissenschaftlichen Fächer am allerwenigsten. Eine Zeit lang hatte er sich fürs Theater begeistert, war in Schulaufführungen aufgetreten und in Darstellendem Spiel mit» sehr gut «benotet worden. Sport ödete ihn an. Kunst sagte ihm nichts. Noch nie hatte er ein Wort über Zeichnungen verloren, geschweige denn über meine. Er liebte Musik, und deshalb war der Musikunterricht der allerschlimmste für ihn. Der Lehrer spulte sein Wissen von den Beatles ab. Alles gipfelte in den Beatles oder ließ sich auf die Beatles zurückführen, schon Beethoven, den der Musiklehrer beharrlich» Beathoven «nannte, sei nur eine Vorbereitung auf die Beatles gewesen. Seit 1970 war die Musikgeschichte zu Ende.
In den Sprachfächern aber — Englisch, Französisch und seit kurzem Spanisch — fiel ihm alles in den Schoß. Vokabeln brauchte er nicht zu pauken, durchlesen reichte. Lyrikinterpretationen in Englisch-Klassenarbeiten fügte Jesse eine Übersetzung des Gedichtes bei.»Very well done «schrieb seine Lehrerin darunter. In Französisch eine schlechtere Note als eine Eins zu bekommen, war ein Affront, ein Eklat.
All das wusste ich von meiner Mutter. Wenn sie mir von Jesses Schulleistungen erzählte, fragte ich mich, ob er vielleicht seiner Mutter nacheiferte. Drei von Iras sieben Fremdsprachen lernte er bereits. Irgendwann würden ihn meine Eltern nicht mehr davon abhalten können, auf die Suche nach seinem Vater zu gehen. Vielleicht würde er nach England gehen, vielleicht in Netanja oder Tel Aviv Hebräisch lernen. Fragte man ihn, was er später machen wolle, ob er vielleicht Germanistik, Anglistik oder Romanistik studieren wolle, lautete Jesses Standarderwiderung, er habe keine Ahnung. In letzter Zeit hatte er gegenüber meinem Vater einige Male angedeutet, er wolle Medizin studieren, Arzt werden, am besten Chirurg, weil Chirurgen gegen den Krebs kämpften und am meisten verdienten. In welchem Fachbereich der Mann aus Tel Aviv praktizierte, wusste ich nicht. Immerhin aber wusste ich, dass kein Arzt der Welt die eigene tote Mutter wieder lebendig machen konnte.
«Da ist die Brücke!«, rief Jesse.»Und da ist der Fluss! Voilà le fleuve. Très petit, Monsieur. Was bist du klein, du kleine Bresle!«, zwitscherte er und las das Willkommensschild laut vor, sodass es aus seinem Mund klang, als würden vielmehr wir das Land willkommen heißen:»Bienvenue, Normandie!«