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11

Bei Aumale fuhren wir von der Autobahn ab und auf einer schmalen Landstraße gut anderthalb Kilometer zurück Richtung Osten. Jesse las Kevin Brennickes Straßenkarte und sagte voraus, was als Nächstes kommen würde. Eine Kurve. Eine Einmündung. Das Ufer der Bresle. An den Flussauen entlang, die schon dunkelgrün im Abend lagen, fuhr ich ein Stück nach Norden, im Rücken das Rauschen und Pfeifen des Fernverkehrs, der sich über die Autobahnbrücke wälzte. Jesse hielt Ausschau nach dem Teich oder Weiher, der rechterhand liegen musste, wo aber nur Weidenbäume und Moorwiesen waren, und sang dazu den Text von» Smells like teen spirit «mit, bis ich die CD ausstellte.

«Ey! Mein Lieblingslied!«, rief er sofort empört.»Blasphemie. «Er griff zum CD-Player und stellte den Song wieder an. Das Gitarrenrambazamba begann von neuem.

«Mach die Musik aus«, sagte ich ruhig.»Bitte. Guck dich doch mal um. Die passt hier wirklich nicht hin.«

«Sagt wer?«

«Ich! Reicht das nicht? Mach sie aus, verdammt«, herrschte ich ihn an.

Er sah mich und ich sah ihn an, und wieder war ich mir sicher, dass Jesse wie ich und ich wie mein Vater aussah, wenn er außer sich war und sein dummes Gesicht machte.

«Ich brauche Ruhe, wenigstens eine Viertelstunde lang. Silence — kapiert?«

«Nö«, sagte er seelenruhig.»Wenn du Ruhe brauchst, warum regst du dich dann so auf? Wir sind noch nicht mal da.«

Und ich sagte:»Doch. Wir sind da«— und bog nach rechts in einen Feldweg, wo ich anhielt und den Motor abstellte. Die Musik wurde gekappt, kein Strom mehr. Es wurde still. Aber das schien nur so. Der Lärm der Welt war immer noch da. Man hörte Grillen oder Zikaden, irgendwo weit weg eine Kreissäge, von deren Gellen Vögel aufgescheucht wurden, auch sie, dem spöttischen Geschrei nach, Stare. Und alles wurde überlagert von dem Rauschen und leisen Geratter, das von der Brücke herabdrang.

Sicherheitshalber zog ich den Schlüssel ab. Der Weg führte auf den Rand eines Wäldchens zu, das zwischen Feldern voller halb verblühter Lupinen und den Pfeilern des Autobahnviadukts lag, vielleicht einen knappen Kilometer entfernt. Man brauchte nur geradeaus zu gehen, einen Schritt vor den anderen zu setzen, und die Schwere im Kopf würde sich lösen. Ich griff hinter mir nach der Tüte mit den Lunchpaketen und Wasserflaschen aus Mons.

«Hier«, sagte ich und legte Jesse, als er nicht darauf einging, Sandwich und Flasche in den Schoß. Um mir nicht das Gesicht zuwenden zu müssen, blickte er aus dem Seitenfenster, wo in der Abenddämmerung nichts war außer Betonpfeiler und Lupinendolden, und spielte mit dem Knopf des elektrischen Fensterhebers. Das Fenster ging einen Spalt auf und rutschte wieder zu, auf und zu, auf und zu, tat das aber nur in Jesses Vorstellung. Als auch ich mich nicht rührte, stieg ihm das Blut in den Kopf, und er wurde rot vor unterdrücktem Groll wie seine Mutter.

«Hinten in meiner Sporttasche sind ein paar Comics«, sagte ich,»keine Mangas, aber gute Comics und Graphic Novels, auch aus Japan. Guck sie dir an, wenn du Lust hast.«

Er rührte weder das Wasser noch das Sandwich an. Wortlos steckte er sich stattdessen die Stöpsel in die Ohren, zog das Handy aus der Gesäßtasche und stellte Musik an. Es war ein Automatismus ohne jede Bedeutung oder Hoffnung. Stundenlang hatte er auf diese Weise in dem Zimmer voller Poster, Bücher und Spielzeug gesessen, das seine Bereitschaftspflegeeltern für Teenager wie ihn eingerichtet hatten. Wenn es Ira sehr schlecht ging und sie ein oder zwei Wochen für sich brauchte, um ins Leben zurückzufinden, kam Jesse zu Lewandowskis. Sie waren nett, engagiert, kinderlos, ein Erzieherpaar mit linksalternativem Hintergrund und Ferienhaus auf Gomera. Seit zwanzig Jahren nahmen sie Jugendliche zur Stand-by-Pflege bei sich auf, deren Eltern in der Krise steckten. Sie mochten Jesse, aber er sie nicht. Lewandowskis deprimierten ihn. Er wohnte nur deshalb bei Karen und Ingo, weil seine Großeltern und sein Onkel keine Zeit hatten — was er uns nicht zum Vorwurf machte. Immerhin holte ich ihn einige Male daheim ab und brachte ihn, verbunden mit einem Kinobesuch oder Essen bei McDonald’s, zu Lewandowskis nach Langenhorn. Einmal kam mein Vater mit, und zu dritt machten wir unterwegs Station in Fuhlsbüttel und sahen uns eine Flugschau mit alten Propellermaschinen und sogar einem Nachbau des» Flyer «der Gebrüder Wright an. Mein Vater nahm am Flughafen die S-Bahn, und als ich Jesse in Langenhorn ablieferte, fragte ich ihn, ob er lieber bei mir bleiben wolle, anstatt zwei Wochen mit Ingo und Karen zu verbringen. Doch er wollte nicht.»Ich muss jetzt rein«, sagte er vorm Haus.»Ich hab es Mama versprochen.«

Ob er damals in seinem Zimmer im Reihenhaus der Lewandowskis Musik oder Hörbücher gehört oder ob er nur so getan hatte, um in Ruhe gelassen zu werden, wusste ich nicht. Aber wenn einmal kein Lastzug über die Brücke bei Aumale donnerte und wenn jenseits der Felder auch das Gellen der Säge aussetzte, dann war es im Wagen so leise, dass ich den Lärm hörte, der ihm durch den Kopf wummerte.

12

So ließ ich ihn sitzen. Ich nahm mein Essen, mein Wasser, stieg aus und ließ die Tür offen. Endlich allein, ging ich davon, lief in den Abend und roch den herbstlich schweren Lupinenduft und spürte den Zischelwind, der violette Wogen in das Feld drückte. Kaum hundert Schritte, schon hatte ich das Sandwich aufgegessen und die Flasche halb leer getrunken. Eine stille Freude, eine Abendgelassenheit redete ich mir ein, während ich Insekten über das Meer aus lilafarbenen Blüten hinfliegen sah und im Rücken die Blicke des Jungen zu spüren meinte, vor dem ich davonlief. In Wahrheit schritt ich nicht allein über den Feldweg, sondern schritt neben mir selbst her, sah mir in einer gedehnten Schrecksekunde dabei zu, wie gierig ich das Weißbrot verschlang und das Wasser hinunterstürzte, und sah mich in die Gegend schauen wie von einem allgemeinen Schrecken angesteckt. Ich schämte mich, aber konnte nichts dagegen tun. Mit aller Macht zog es mich zurück zu dem Mercedes, in dem der Sohn meiner toten Schwester saß, aber ich ging weiter, trotzig und gekränkt, und drehte mich nicht mal um. Ich schämte mich für meine Unbeherrschtheit, und wie ein Egoist kam ich mir vor, weil sich im Nirgendwo zwischen zwei Futterpflanzenäckern unter einer riesigen Brücke mein Körper so ungeniert selbstständig machte.

Allen Ernstes hoffte ich dann einige Augenblicke lang, mich auf die kommenden acht Tage einstimmen zu können, nur indem ich mir diese Autobahnbrücke ansah. Aber die Bresle-Brücke sagte mir nicht das Geringste, nicht mal dass ich eine Viertelstunde zuvor selber darübergefahren war, konnte ich mir bei ihrem Anblick vorstellen. Im grauer werdenden Abend war sie ein dunkelgraues Ungetüm. Als steinerne Rampe zerschnitt sie die Weite, sprengte die ländliche Ruhe, sodass das Trudeln und Segeln über den Feldern und das Strömen und Schnellen im Fluss unwirklich wurde, unglaubwürdig angesichts des Tempos und Lärms, mit dem der Verkehr über sie hinbrauste. Jesse hatte recht. Zerfräsen, Zerschneiden, Nirvanas sägender Krach passte sehr wohl hierher. Lärm und Leiden am Lärm, beides zugleich lag in Kurt Cobains Stimme.

Zwischen dem Lupinenfeld und dem Weg verlief ein schmaler Bewässerungsgraben, ölig braun, einbetoniert und schnurgerade, bis er sich in der dunklen Ferne verlor. Als ich mein Wasser ausgetrunken hatte, blieb ich stehen und hielt die leere Plastikflasche und Sandwichpackung noch eine Weile in der Hand. Dann, in einer zornigen und angewiderten Aufwallung, warf ich beides die Böschung hinunter. Das Plastik schwamm, bewegte sich aber nicht von der Stelle. Es herrschte keinerlei Strömung in dem Graben, sein fast kastanienbraunes Wasser stand völlig still — und die Reglosigkeit rührte mich. Ich blieb selber stehen, betrachtete meinen Müll und ließ den Plan, bis zu dem Wäldchen zu gehen, fallen. Ohnehin war es zu weit entfernt. Über mir, im dunkelblauen Abendlicht scharf konturiert, so groß und laut wie ein landender Jet, stand die Brücke. Sie ist schön, dachte ich mit einem Mal, schön, weil sie etwas überspannt, was es nicht mehr gibt. Das Flüsschen Bresle, das auch den toten Graben speist, früher einmal, vor langer Zeit, ist es so breit und mächtig gewesen wie die Brücke, ein Strom, so infernalisch sich über Geröll wälzend wie der Verkehr, der jetzt hinwegbrandet über nichts als leere Luft.