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Ich steckte mir eine Zigarette an und ging langsam zurück, sehr langsam, und froh über jeden Schritt. Dieser einbetonierte Graben, früher einmal ist er vielleicht ein Bach gewesen. Ich sah auf meine Schuhe und dachte dabei an meinen Vater, mit dem ich sie gekauft hatte. Ich dachte an seinen Hobbykeller und seine Hobbykellerpantoffeln, mit denen er von einem Tisch zum anderen ging, wo überall Bücher lagen und Modelle von Propellermaschinen herumstanden, für die er sich begeisterte. Die Flugzeuge der US Air Force, die versehentlich Mons bombardiert hatten, fielen mir wieder ein. Ich stellte mir vor, wie sie vor fast siebzig Jahren, als mein Vater acht war, hier entlanggeflogen waren, wie die Navigatoren in ihren Plexiglaskanzeln Ausschau hielten und markante Punkte in der sich unter ihnen erstreckenden Landschaft mit eingezeichneten Punkten auf ihren Karten von Somme, Marne, Lothringen, Elsass, Belgien und Rheinland verglichen. Ich malte mir aus, wie in einer Liberator oder Flying Fortress sich einer entschied, etwas erkannt zu haben, Gleise, Lokschuppen, eine Eisenbahnbrücke, ein größeres Bahnhofsgebäude, anhand dessen er sich schneller als erwartet über Aachen, Mönchengladbach oder Koblenz wähnte, weshalb er dem Bombenschützen den Befehl zum Ausklinken gab.

Bestimmt hatte es schon 1944 eine Brücke über die Bresle gegeben, wahrscheinlich eine viel kleinere, über die ein Stück weiter südlich, mitten im Ort, die Leute aus Aumale ihre Fuhrwerke trieben und Autos holpern ließen. Im Spätsommer, als sich die Wehrmacht aus der Normandie zurückzog, waren Briten und Amerikaner hier durchgekommen und durch die Picardie, Französisch-Flandern und Belgien nach Osten vorgerückt bis zum Rhein.

Ich trat die Zigarette aus und war schon in Rufnähe zum Wagen, als ich noch mal stehen blieb und zu dem Autobahnviadukt hinaufsah. Ich hätte nicht sagen können, wieso, und war mir wie gewöhnlich meiner Eindrücke nicht sicher, irgendwie aber schienen Form und Farbe der Brücke auch von damals zu erzählen, selbst wenn sie erst zwanzig oder dreißig Jahre nach Kriegsende gebaut worden war. Alles war gleich weit entfernt, es war unverändert gültig. Das schien die Brücke mit ihren zwanzig ypsilonförmigen Betonbeinen, der grauen Rampe und der grauen Platte, die das Flussbett der Ur-Bresle überspannte, zu sagen. Es lag an mir, Augen dafür zu haben. Und bei diesem Gedanken merkte ich, wie ich mich vor Neugier straffte und aufrichtete und wie ich mit einem Mal tatsächlich Lust bekam zu zeichnen.

Natürlich wusste ich, dass jetzt keine Zeit war, eine Zeichnung oder nur Skizze von der Brücke zu machen, und ich war darüber nicht mal traurig, höchstens ein bisschen missmutig. So kam ich zum Wagen zurück und bemerkte erst da, dass die Fahrertür nicht mehr offen stand. Die Türen waren zu, aber nicht verriegelt, und der Mercedes leer. Jesse war nirgends zu sehen.

Ich setzte mich ans Steuer und hupte drei-, viermal lange und in der abendlichen Ödnis auch für mich erstaunlich durchdringend. Nichts passierte. Der Himmel war dunkelblau, beinahe violett, fast von derselben Farbe wie die Lupinen, die kaum schwächer dufteten als die Lilien und Maréchal-Niel-Rosen im Wellingsbütteler Garten meiner Mutter. Im leichten Wind verursachten die Stängel ein leise rieselndes Geräusch. Keine Stunde mehr, dachte ich, und es ist stockfinster.

Ein paar Minuten lang wartete ich ab. Dabei sah ich Jesse vor mir, wie er vor lauter Wut weglief, wie er sich an die Straße stellte und einen Wagen anhielt. War es möglich, dass er zu einem Fremden ins Auto gestiegen und ohne eine Nachricht zu hinterlassen abgehauen war? Ich malte es mir aus und hielt es für gut möglich und unmöglich zugleich. Ich sah ihn auf der Autobahn Richtung Le Havre und Bayeux fahren, am Steuer einen älteren Mann, der ihn ausfragte, ein Geschäftsreisender, ein Vertreter, dann wieder fuhr eine jüngere Frau das Auto, die sein beeindruckendes Französisch über alle Maßen entzückte. Fluchend schlug ich aufs Lenkrad, merkte aber auch, wie ich es allmählich mit der Angst zu tun bekam. Das Sandwich, die Wasserflasche, sein Rucksack, nichts war mehr da — als wäre Jesse überhaupt nie da gewesen, sondern ich die ganze Strecke allein gefahren. Ich malte mir die Reaktion meiner Mutter aus und ließ automatisch, wie sie es getan hätte, ruckartig das Kinn auf die Brust sinken.»Grün und blau schlagen werde ich sie!«, hatte sie einmal im Zorn gesagt, als Ira mit fünfzehn oder sechzehn zum ersten Mal über Nacht nicht nach Haus gekommen war. Ich hatte es auch deshalb nicht vergessen, weil wir nie, niemals von unseren Eltern geschlagen worden waren.

Ich stieg aus und rief nach dem Jungen. Ein Stück ging ich noch mal den Feldweg hinunter, kehrte aber um, als ich mir sicher war, dass der Weg nirgends abzweigte. Ich ging am Wagen vorbei und stellte mich an die Landstraße. Dort stand ich vielleicht drei Minuten lang, ohne dass in der Halbdunkelheit die Scheinwerfer eines Autos oder Traktors auftauchten. Überhaupt hatte ich, seit wir in Frankreich waren, so gut wie noch keinen Menschen gesehen. Die Leute, die man sah, saßen in Autos. War man plötzlich wie zwangsweise im Freien, so überfiel einen die Unwirklichkeit, dann schmerzte die Verblüffung, wie simuliert alles wirkte. Die Kreissäge war verstummt. Die Brücke rauschte. Krähen krächzten über dem Fluss. In der Nähe erfüllte leises Summen die Luft — Herbstmücken kamen. Erbarmen! In regelmäßigen Abständen, mit langen Pausen dazwischen, rief ich nach Jesse und merkte von Mal zu Mal deutlicher, dass ich sein Verschwinden nicht wahrhaben wollte.

Wieder am Lenkrad, nahm ich mein Handy und rief meine Mutter an. Sie war nicht überrascht, von mir zu hören, und ich wartete ab, ob Jesse sich gemeldet hatte. Sie erwähnte nichts, fragte nur, wie es ihm gehe und wo wir seien. Als ich es ihr sagte, war sie doch überrascht.

«Ihr seid nicht in Belgien geblieben? Wieso nicht?«

«Wir sind so gut durchgekommen«, sagte ich.»Wir versuchen, es bis zum Hotel zu schaffen. Das war es auch nur, was ich erzählen wollte. Da fällt mir ein … Hat Jesse sein Handy zu Hause liegengelassen?«

Sie habe es nicht gesehen, sagte sie, und sein Zimmer habe sie schon am Mittag aufgeräumt.

«Ist mal wieder eins weg, ja?«

Ich hörte den kleinen Hund der Nachbarn bellen und fragte mich, ob er wohl immer noch kläffen würde, wenn alles Übrige schon vorbei und Vergangenheit war.

«Wir finden es jedenfalls nicht«, sagte ich möglichst tonlos.»Gib mir doch bitte seine Nummer. Vielleicht finden wir’s, wenn wir es klingeln lassen.«

«Die kann dir der Junge doch selber sagen!«, rief sie vergnügt und lachte mich aus.

Und ich sagte:»Er hat sie vergessen.«

Und meine Mutter:»Gib ihn mir mal.«

Und wieder ich:»Geht grad nicht. Er ist auf dem Klo. Wir stehen an einer Raststätte. Es gießt in Strömen. Hörst du, wie es rauscht? Es donnert!«

Ich hielt den Apparat ins Freie, nach oben, Richtung Brücke. Weshalb ich log, wusste ich nicht. Oder wusste es sehr genau — ein Relikt der alten Lust, sich zu wehren durch Erfindung, wenn sie einen von uns in die Enge getrieben hatten, um aus Ira oder mir etwas herauszubekommen.

Oder einfach bloß aus Müdigkeit.

«Ja, ich hör’s. Gott, bin ich froh, dass diese Reise mir erspart bleibt! Wenn ich mir bei so einem Sauwetter deinen Vater und seine Sehnenscheidenentzündung vorstelle. Das Grausen kommt mir da. — So, hier ist die Nummer. Hast du was zu schreiben, oder soll ich sie dir schicken?«

«Schick sie lieber. Wir melden uns. Grüß Papa. Mach dir keine Sorgen, es ist alles okay.«