Damit beendete ich das Gespräch. Ich drückte auf die Taste mit dem kleinen roten Hörer. Er wirkte wie eine winzige im Abendrot liegende Brücke, sollte aber einen Telefonhörer darstellen. Tote Leitung, dachte ich sofort. Jede Unterhaltung mit meiner Mutter erschien mir als ein unabwendbarer Beweis für Iras Tod. Deshalb glaubte ich, alles von der Frau, die uns zur Welt gebracht hatte, begriffen zu haben.
Schon kam die SMS mit Jesses Nummer. Vor Beklemmung schlug mir das Herz bis in den Gaumen hinauf, als ich sie anwählte. Es klingelte. Ich merkte, wie wenig ich erwartete, dass er sich meldete. Es klingelte. Was würde ich also tun? Es klingelte, und ich hörte, das Klingeln war Musik, der Refrain eines alten HipHop-Stücks. Die Musik kam aus dem Wagen, von hinten, und als ich mich umdrehte zur Ladefläche, sah ich, wie sich der Junge dort unter der Wolldecke aufgerichtet hatte und mich mit bösen, traurigen Augen auslachte.
13
Jesse aß sein Sandwich und trank sein Wasser, während wir in den Abend hinein weiterfuhren. Unser nächstes Ziel war Neufchâtel-en-Bray, wo es erneut nach Westen ging und ich auf die E44 biegen würde. Sie führte nördlich an Rouen vorbei und bis nach Le Havre. Wir hatten eine Vereinbarung getroffen: bis Le Havre nichts von Nirvana. Nach Le Havre immer mal wieder ein Stück. Und die Songs dazwischen suchten wir abwechselnd aus.
Die alte Wolldecke, unter der er sich hinten versteckt hatte, wickelte er sich um die Beine. Er hatte Iras lange Beine und litt unter derselben Fußkälte, die ihr zeitlebens zugesetzt hatte. Draußen wurde es frisch. Nebel, durchstochen von tief fliegenden Krähen, wogte in der Abendkühle über die Äcker und sackte auf Waldinseln und einzelne Pappeln. Den Übergangsschatten nannte Gottfried Keller die Zeit, wenn der Tag ging und die Nacht noch nicht begann.
Im Wagen zog es entweder, oder das fast ein Vierteljahrhundert alte Heizgebläse ließ einen nach Luft japsen. Ich hatte den Mercedes von meinem Vater übernommen, es war ein unzerstörbares, auch nach über dreihunderttausend Kilometern noch immer spritziges 124er T-Modell. Mir war dieser Kombi eines Diplom-Architekten eine Nummer zu groß gewesen, doch weil mein Vater sich in den Kopf gesetzt hatte, dass sein geliebter Merzer in der Familie blieb, hatte er schließlich sogar eine Austauschmaschine und brombeerrote Neulackierung springen lassen. Sobald die Heizung an war, roch es in dem Wagen wie eh und je nach Zementstaub und Mörtel, nach längst verschwundenen Baustellen aus dem Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung.
Brombeerrot, dachte ich, so hat mein Vater den Benz wahrscheinlich nur spritzen lassen, weil auch dessen Vorläufer diese Farbe hatte, ein betagter Strich-Achter, Baujahr ’71. Und sein Leben musste Heinrich Lees erster Daimler ausgerechnet in einer Nacht aushauchen, in der der stets einsatzbereite Architekt einer Laune nachgab und seinen zwölfjährigen Jungen zu einer Nachtbaustelle mitnahm. Wohin sind wir damals gefahren, wo lag die Baustelle, fragte ich mich, und wo ist der so breite und flache Strich-Achter zusammengebrochen, als ich zum ersten Mal vorn auf dem Beifahrersitz sitzen durfte? Ich erinnere mich nicht. Ein Heulen hatte ich plötzlich gehört, und dann ein gewaltiges Scheppern im Motorraum, und auch den gelb beleuchteten Gasthof, zu dem der Abschleppwagen uns brachte, sah ich noch vor mir. Wir schliefen in einem Doppelbett unter lauter Hirschgeweihen, mein Vater schnarchte, und ich lag im Dunkeln wach und hörte den Lastzügen zu, die auf der Autobahn vorbeidonnerten.
Acht Jahre älter als Jesse, Baujahr ’89 war der Wagen, der ihn der Erfüllung eines innig gehegten und hart umkämpften Wunsches entgegentrug. Jesses Laune besserte sich mit jeder Ausfahrt, die uns der Kanalküste näher brachte. Wir sind quitt, dachte ich, und dasselbe schien er mir sagen zu wollen, gerade indem er sich nach Kräften über mich lustig machte.
«Echt derben Slapstick«, nannte er, was er mit seiner Handykamera aufgenommen hatte. Auf der wenig befahrenen abendlichen Autobahn Richtung Ärmelkanal spielte er es mir ein dutzend Mal vor.
Man sah mich in mehreren Dreiminutenfilmchen, ein paar hatte Jesse aus dem Off kommentiert. So hörte man seine Stimme und konnte dabei zusehen, wie ich auf dem Feldweg bei Aumale davonging:»Da geht er, still und einsam. Versunken in die Ruhe der Natur, geht unser Held dem Abend entgegen: Marky Mark, der Mann, der die Brücken zeichnet.«
Man sah, wie ich stehen blieb, um mich blickte und zögerte; und wie ich plötzlich, verstohlen und gehässig, meinen Plastikmüll in den Graben warf.
«Nichts kann Marky Mark aufhalten«, lautete Jesses feierlicher Kommentar.»Er wird auch diesen Graben bezwingen. Eine Brücke aus Plastik soll hier entstehen!«
Ein weiterer Film war nur mit gelegentlichem Flüstern unterlegt:»Marky Mark kehrt zu seinem Raumgleiter zurück«, sagte Jesse, kurz bevor ich in den Wagen stieg und begann, die Hupe zu traktieren.
«Marky Mark ist ratlos«, hörte man, als ich noch einmal ein Stück den Feldweg hinunterlief,»Marky Mark wird immer ratloser«, als ich zurückkam und, dicht an der Kamera vorbei, an dem Schiff entlangging, um mich an die interstellare Raumgleiterstraße zwischen den Sternen Aumale und Rivery zu stellen.
Dort stand ich und wechselte erneut die Gestalt. Offenbar erinnerte ich ihn an Cary Grant in Hitchcocks Der unsichtbare Dritte.
«Gleich kommt das Schädlingsbekämpfungsflugzeug«, sagte er, während ich nach ihm rief und Ausschau hielt nach seinem blonden Haarschopf und der safrangelben Kapuzenjacke mit dem durch die Luft segelnden Skater auf der Brust.
Ich nahm ihm diese kleinen Boshaftigkeiten nicht übel, sondern lachte sogar mit über den wenig heldenhaften Marky Mark, der da so unbeholfen und ratlos irgendwo im Weltall in der Gegend herumstand. Es war offensichtlich, dass Jesse sich selbst parodierte, indem er mich zur Slapstickfigur zurechtmodelte. Wenigstens kam es mir so vor, als wäre in Wahrheit gar nicht ich gemeint. Als würde in den verwackelten Filmchen nicht einer wie ich nach einem verschwundenen Jungen suchen, sondern vielmehr der junge Kommentator nach einem Vermissten Ausschau halten, allerdings wohl kaum nach mir. Gesucht wurde ein tatsächlich unsichtbarer Dritter.
Schneller als erwartet kamen wir an Bolbec und Rogerville vorbei. Als die ersten auf immer platterem Land errichteten Industrieanlagen und Öltank-Areale Le Havre ankündigten, musste ich an den manchmal brachialen Humor denken, den Jesse mit Niels teilte. Ich sah die beiden vor mir, wie sie draußen vorm Haus auf dem Mäuerchen saßen und sich über irgendetwas auf dem Display ihrer Handys schieflachten, und ich war mir sicher, dass es Niels war, den sich Jesse auf seine Weise dazuimitierte, weil er seinen Freund umso stärker vermisste, je näher wir ihm kamen.
Wie es sich für den Prinzregenten gehörte, amüsierte ihn besonders mein Telefonat mit seiner Großmutter königlich. Er hatte es in voller Länge aufgenommen. Bild und Ton belegten seiner Ansicht nach eindeutig die Kaltblütigkeit meiner Tricksereien.
«Wir stehen an einer Raststätte. Es gießt in Strömen. Hörst du, wie es rauscht? Es donnert!«
Man sah, wie ich das Handy aus dem Seitenfenster hielt, nach oben Richtung Brücke, wo der Verkehr lärmte, und, meinte Jesse, man sah meinem Gesicht an, dass es mich keine Überwindung kostete, meine Mutter mit einer Lüge abzuspeisen. Nein, es schien mir sogar Vergnügen zu bereiten.
«Diesen Film löschst du«, sagte ich im selben Moment, als wir auf die Seine-Brücke fuhren und rechterhand kurz die breite silberne Mündung und das offene Meer zu sehen waren.»Meinetwegen behalt die anderen, die sind ja ganz lustig. Aber diesen löschst du.«
«Und wenn nicht?«
«Gibt es Dresche.«
«In echt? Ich behalt ihn. Endlich Dresche.«
«Ich meine es ernst.«
Ich sah ihn an und sah den Fluss und das Meer, die sekundenlang Hintergrund seines Gesichts und im nächsten Augenblick wieder verschwunden waren hinter Tanks, künstlichen Böschungen, Lagerhallen und in der Ferne der Steilküste im roten Licht des Sonnenuntergangs. Im Radio lief eine Sendung über Pink Floyd. Zwei Männer, die ich nicht verstand, stellten andächtig wispernd das Wish you were here-Album vor.