Leuchte weiter, du verrückter Diamant, dachte ich.
So leicht gab Jesse Lee nicht auf. Anders als seine Mutter und sein Onkel scheute er vor Konflikten nicht zurück. Er war tapfer, verwegen, mutig, beherzt und kühn, und er kannte die Unterschiede wie jeder Königssohn, dessen Klinge aus Worten scharf war und locker saß. Hierin glich er weniger seiner Mutter als seiner Großmutter, der Frau, deren Ehre er hier verteidigte und die, über kurz oder lang, noch jeden Widersacher niedergerungen hatte.
«Nur ist der Film leider ein Faustpfand«, sagte er,»ein Beweisstück! Dafür, dass mein Onkel ein echter Schwindler ist. «Er lachte, wohl um deutlich zu machen, dass er es zwar ernst, aber nicht böse meinte.»Hey, Marky Mark! Du lügst einfach so deine Mutter an!«
Damit wagte er sich weit vor. Jedem anderen hätte ich … schwer zu sagen. Bleib ganz ruhig. Bleib unnachgiebig und weis ihm nach, wie absurd seine Unterstellung ist, dachte ich. Ich hätte seiner Oma bloß ein bisschen was vorgemacht, sagte ich. Damit sie sich keine unnötigen Sorgen machen müsse, hätte ich ein paar Kleinigkeiten dazuerfunden, um der Echtheit willen. Wenn ich darüber nachdachte, konnte ich ihm jedoch nur recht geben. Ich hatte keine Ahnung, was in mich gefahren war.
«Lösch den Film, mein Lieber, ich sag es dir im Guten. Du hast Zeit, bis wir in Caen sind. Oder du erlebst was.«
Aber was sollte er schon erleben. Womit wollte ich ihm denn drohen.
14
Von mir hatte der Junge nicht mehr zu befürchten als gekränktes Schweigen. Ich wusste und er wusste, dass ich Auseinandersetzungen aus dem Weg ging, unabhängig davon, wie alt derjenige war, mit dem ich dazu verdammt sein sollte, um einen Ausgleich zu ringen. Ich wollte nicht ringen. Ringen führte zu nichts, jedenfalls nicht zu gerechterer Betrachtung. Daher rang ich auch nicht um ein Bild. Eine Zeichnung entstand, während ich das Gesehene in Bewegung übertrug. Was mich bewegte, ließ meine Hand den Stift übers Papier führen. Oder nichts entstand. Dann lag die Hand nur da, so regungslos auf dem Zeichenblock, wie ich im Innern fühllos blieb.
Meine Skizzen waren keine Kompromisse, auch wenn mein Vater das Gegenteil behauptete. Nur selten waren sie mehr als Schilderei, wie es bei Gottfried Keller hieß, und etwas wahrhaft Fantastisches, nämlich ein vollendeter Anfang. Meistens waren sie Denkstützen. Schon länger als Jesse auf der Welt war, zeichnete ich Szenen und Figuren aus Kellers Grünem Heinrich nach, Bilder, die mir zuflogen und die ich außer Ira niemandem je gezeigt hatte. Immer wieder las ich in dem Roman Episoden, die mir merkwürdig kalt vorkamen, obwohl sie von rätselhafter Dichte und berückender Schönheit waren. Dagegen ließ mich manche Landschaftsbeschreibung am Rande oder eingeflochtene Geschichte um eine Nebenfigur oft nicht mehr los. Kellers Erzählung von dem Mädchen Meret hatte ich besonders gern. Die kleine Meret weigerte sich zu beten und wurde dafür so lange von ihren Eltern und einem Pfarrer, der ihr die Verstocktheit austreiben sollte, bestraft, bis man sie schließlich zu Tode geschunden hatte. Sogar von den Fürbitten an seinem Grab war das Mädchen so angewidert, dass es zum Entsetzen aller aus dem Sarg aufstand und davonrannte. Erst als sie an ihrem Lieblingsfleck im Bergwald allein war, legte sich Meret schweigend hin und starb wirklich.
Die Eltern hatten ihr von irgendeinem Teufel besessenes Kind malen lassen, um ein Andenken an Meret zu haben. Dieses Bild von dem zartgebauten Mädchen, das ein Damastkleid, eine bis zum Boden reichende Hüftkette und einen Kopfputz aus Gold- und Silberplättchen tragen und dazu den Schädel eines verstorbenen Kindes in Händen halten musste, hatte ich immer wieder zu zeichnen versucht. Doch ich war mit keinem meiner Blätter zufrieden gewesen. Auf keinem erkannte ich wieder, was bei Keller der grüne Heinrich beim Anblick des Bildes empfindet, nämlich» eine unwillkürliche Sehnsucht, das lebendige Kind zu sehen«. Meine Meret-Blätter waren Annäherungen, und dabei blieb es.
Jesse sagte nichts, und ich schwieg genauso stur. Es wurde jetzt schnell dunkel, und während man fast beobachten konnte, wie sich die Nacht über die Küstenregion legte, fuhren wir immer noch mit der Beklommenheit vom Mittag und Nachmittag dahin.
«Du hattest was versprochen«, sagte er auf einmal, und ich wusste sofort, was gemeint war.
«Tu sie rein«, gab ich tonlos zurück,»ich halte mein Wort.«
Er steckte die Nirvana-CD in den Player und fragte, wie viele Lieder ich ertragen könne.
Allmählich machte er mich wütend, aber ich wollte nicht wütend sein. Gib ihm eine vor den Bug, sagte ich mir, mein besseres Ich aber mahnte mich, es lieber bleiben zu lassen. Wieso eigentlich? Denk an deine Schwester, sagte mein besseres Ich. Sie ist ein Teil von ihm. Ohne ihn wäre sie vielleicht noch am Leben, sagte ich mir.
Denk an Iras Worte. Denk dran, was sie über die Streitsucht sagte. Sie ist die nächtliche Seite der Aufrichtigkeit.
«Nimm auf mich keine Rücksicht«, sagte ich zu Jesse.»Ich hör mir alle Lieder gern noch mal an, nur ›Smells like teen spirit‹ nicht. Das hab ich für dieses Leben genug gehört.«
Das verbissen Errungene führte bloß zu faulem Frieden. Drei Jahre lang hatten das meine Exfrau und ich einander vorgelebt. Einer mutmaßte es vom anderen, doch weil Saskia und ich uns nicht stritten, machten wir einander auch keine Vorwürfe. Lieber massierten wir einander, immer schön im Wechsel. Doch wie gut wir auch zueinander waren, stets schien der eine besser dran zu sein, und immer war er es auf Kosten des anderen. So verboten sich getrennte Urlaube, getrennte Abende, ein eigenes Auto oder Konto oder Schlafzimmer. Keiner sollte es schlechter haben als der andere, eigentlich aber nicht besser. Und so ging auch unser Liebesleben ein, weil in Saskias Augen meine Lust lustvoller und nach meiner Auffassung Saskias Fantasien fantasievoller waren. Erst als wir uns wirklich trennten — einvernehmlich, da es keinem zugemutet werden konnte, dass er der Verlassene war — , fand jeder aus seiner stummen Zermürbtheit zurück zu einem gerecht verteilten, nur noch leicht bedrückenden Frieden.
Und auch dem knapp zehn Jahre währenden Zerwürfnis mit Kevin Brennicke war nicht wirklich ein Streit um seine spätere Frau vorausgegangen. Richtig, ich hätte um Nana kämpfen können, vielleicht sogar müssen. Aber ich tat es nicht, sondern brach stattdessen den Kontakt zu beiden ab, indem ich zur Sicherheit mein Studium an der HfBK gleich mit abbrach.
Was wäre aus dir geworden, falls du dich nicht in Nana Goettle verliebt hättest? Keiner konnte das beantworten. War ich denn verliebt gewesen? Hatte ich sie überhaupt geliebt? Ich hatte wirklich schnell aufgegeben. Mir nichts, dir nichts hast du sie zum Mond geschossen, sagte mein besseres, aufrichtigeres, gütigeres Ich.
Und wennschon. Viel länger und viel inniger, als ich Nana geliebt hatte, bewunderte ich die Landschaftsbilder der Nazarener und Romantiker. Verglichen mit Pferden, wie Franz Pforr sie malte, verglichen mit Carl Philipp Fohrs Zeichnungen von seinem Hund Grimsel oder Runges Blumenscherenschnitten kam mir das Geheimnis, das Nana aus ihrem Leben machte, seicht und nichtssagend vor. Wenn wir vom Lerchenfeld aus an der Eilenau entlanggingen und ins Eilbektal spazierten, wo Hamburg mitten in der Stadt aufhörte, dann war es unmöglich, mit ihr über etwas anderes zu reden als sie selbst und die Kleinen, die sie mit einem Mann haben würde, der nur für sie und ihre Kinder da wäre. Als würde man das Eilbektal zuschütten, so wäre meine Liebe zur Landschaftsmalerei abgestorben und eingegangen, hätte ich wie Kevin Brennicke und Nana Goettle verbissen weiterstudiert. Impressionisten, Expressionisten, Surrealisten, Konzeptionalisten, Pop Art und No Art und alle anderen Strömungen seither hätten meinen vagen Vorstellungen von einer konzeptfreien Naturbefragung den Garaus gemacht. Nachdem ich mit Ira im New Yorker Guggenheim durch eine Jackson Pollock-Retrospektive geirrt war, kam ich mir die zwei Stunden danach im Central Park wie ein orientierungsloses Gespenst vor. Vor den Riesenbildern von Alex Katz blickte ich in eine Leere aus Landschaften und Gesichtern, die eine einzige Fülle war. Mark Rothkos Dunkelgrün ließ mich verzweifeln. Ein halbes Jahr lang versuchte ich jeden Vormittag, ein nur annähernd so warmes Grün auf die Leinwand zu bannen, während immer mehr Zeichner und Maler in meinem Bekanntenkreis auf die neuen Möglichkeiten am Computer schworen. Digital wurde retuschiert ohne Skrupel. Mein Staunen über Fotografien zersplitterte in Zweifel.