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Dank des Bruchs mit Kevin und Nana hatte ich es geschafft, mir eine rückwärtsgewandte Liebe zu erhalten, und inzwischen dauerte sie schon zu lange, als dass ich hätte einsehen können, wie sehr mein Festhalten an alten Meistern ein angstbesetztes Klammern war. Saß ich einer Selbsttäuschung auf, wenn ich darauf wartete, die pommersche Küste mit Runges oder Friedrichs Augen statt mit meinen eigenen zu sehen? Ja, zum Teufel, ja! Aber wenigstens war da eine Küste vor mir. Nana hatte keine Ahnung, wozu Malerei eigentlich gut sein sollte.

Kevin und ich sprachen uns nie aus, ich war dazu nicht bereit. Doch seit er auf mich zugekommen war, meine Petersburger Serie in St: art gebracht und mich ins Vertrauen gezogen hatte über seine Ansichten von Familie, Älterwerden, Miteinander, seither war zwar meinerseits ein gewisses Misstrauen ihm gegenüber geblieben, doch hatte ich Kevin wohl, ohne es zu wollen oder zu bemerken, verziehen. Hatte ich das? Zu Nana, die seine Frau wurde und jetzt Goettle-Brennicke hieß, sagte ich weiterhin nur Tag und tschüs, ja oder nein, vier auf Gartenpartys gerade noch höfliche Floskeln.

Dennoch waren mir wirkliche Hassgefühle fremd. Selbst einem Feind, wie Gordy einer für mich geworden war, wünschte ich nicht, er möge beim Wasserball ertrinken, so wie damals vor unseren Augen ein Mitschüler. Aus Ringen wurde Hassen. Wer hasste, kämpfte im Stillen mit einem Widersacher, den er sich einverleibt hatte. Da ich aber nicht kämpfte, ja mich nicht mal mit jemandem maß, sondern jedem Kräftemessen aus dem Weg ging, trug ich auch keinem etwas nach, grollte niemandem und hasste keine Menschenseele außer manchmal vielleicht mich selbst für mein ewiges Verdrängen.

Meine Eltern und ihr Enkel schienen erlittene Herabwürdigungen viel leichter als ich vergeben und sich mit jemanden aussöhnen zu können. Hass und Gekränktsein verwandelte ich dagegen in einen hartnäckigen, durch so gut wie nichts aufzulösenden Ekel, mit dem ich mich selbst härter bestrafte als denjenigen, dem meine Abscheu galt. Gordian hatte mich damals in Frankreich immer wieder wegen der Belgierin aus dem Zug aufgezogen. Vier Wochen lang traktierte er mich mit Spott und Herablassung und ließ ich ihn so lange stumm links liegen, bis die Sache grotesk wurde. Kevin und den Mädchen auf dem Zeltplatz, ja sogar deren Eltern war nicht etwa Gordys Verhalten peinlich: Einzig meine Weigerung, mich mit meinem Freund auseinanderzusetzen, empfand man als lachhaft. An einer Schnellstraße irgendwo bei Bordeaux, wo wir seit Stunden einen Wagen anzuhalten versuchten, ging er schließlich auf mich los, riss mich mitsamt Rucksack zu Boden und beschimpfte mich als weibersüchtigen Hirnamputierten. Meine Erwiderung bestand darin, dass ich alles, was ich von seinen Sachen durch die Gluthitze geschleppt hatte, wortlos auspackte und in das versengte Gras warf. In jedem Auto, das uns mitnahm, bis wir in Hamburg waren, versuchte er sich zu erklären und seinen Aussetzer wiedergutzumachen. So saß ich immerhin vier Tage lang meistens vorn, doch ich sagte während der ganzen Rückreise nur das Nötigste. Und auch später redete ich nie wieder mit ihm. Es gab ihn nicht mehr für mich. Gordy hatte aufgehört zu existieren wie seine Lieblingsband E.L.O. Genauso wie das Riesenfaultier am Ende des Pleistozäns war er in meiner Welt ausgestorben.

Meine Unnachgiebigkeit verlängerte mein Gekränktsein ins Endlose, und Möglichkeiten zur Versöhnung rückten in immer weitere Ferne, ganz so, als wäre ich auch nach dreißig Jahren noch immer mit Gordian unterwegs oder als würde sich Caen mit jedem Kilometer, den ich auf der Autobahn durch die Normandie zurücklegte, weiter von Le Havre entfernen. Je schneller ich fuhr und je nervöser Jesse wurde, umso rascher wich unser Ziel zurück und wurde die Nacht dunkler.

Meine Mutter zeigte jedem, dass Niels ihr zuwider war, und ließ den Jungen das deutlich spüren. Sie sprach kaum mehr mit ihm als ich mit Kevins Frau. Blieb Niels zum Essen, pfefferte ihm meine Mutter das Besteck hin. Richtete er das Wort an meinen Vater, grinste sie spöttisch oder verdrehte wenigstens die Augen.

Seine Ethik des Kompromisses sicherte meinem Vater ein größtenteils friedvolles Miteinander nicht nur mit meiner streitbaren Mutter, sondern auch mit Nachbarn, früheren Kollegen und fast allen übrigen Mitmenschen. Er war ein besonnener Zeitgenosse, gerade weil er feste Prinzipien hatte und diese, wenn es sein musste, mit Verve vertrat. Unterhielt ich mich mit ihm, so verblüffte mich immer wieder, worüber er sich nicht alles eine Meinung gebildet hatte. Denn verglichen mit ihm hatte ich eine Vorstellung, ein Bild oder eine Meinung von nur sehr wenigem. Und die paar Dinge, von denen ich mir tatsächlich ein Bild gemacht hatte, waren für meine Eltern ebenso unverständlich und deshalb belanglos wie für die meisten Leute, die ich kannte. Wenn mein Vater und ich uns unterhielten, sprachen wir manchmal über Leonardo oder Dürer, die er verehrte, und auch die Vorliebe für Scribbles, schnelle Skizzen, hatten wir gemein. Doch viel mehr Berührungspunkte gab es nicht. Mit Gedanken zu Gesten in Runges Selbstporträts oder zu Tiepolos Hundezeichnungen hätte ich ihn gelangweilt.

Eine Meinung zu haben, darauf kam es für meinen Vater an. Nichts anderes machte einen zum mündigen Bürger, zum Demokraten und, wie er es sah, Liberalen. Nach seiner Auffassung hatte jeder das Recht auf eine eigene Meinung, gleichgültig, worum es ging. Doch musste auch jeder dazu angespornt werden, die eigene Meinung zu vertreten. Erst wo unterschiedliche Auffassungen aufeinandertrafen, war ein Kompromiss denkbar.

15

Woran denkst du grad?«, fragte Jesse mitten in diese unerquicklichen Grübeleien hinein.

Auch er schien mit den Gedanken ganz woanders. Offenbar war er es müde, eine CD zu hören, die er auswendig kannte, und dabei abwechselnd mit iPhone und iPod herumzuspielen. Wenn er aber mal beides ausschaltete, wurde er auf der Stelle raschlig und musste sich entweder bewegen oder, weil Bewegung nicht möglich war, drauflosplappern. Keine Stunde mehr, und er war am Ziel, am nächtlichen Meer bei seinem Freund Niels.

Ich sagte ihm die Wahrheit:»An einen Marder, daran denk ich grad.«

«Aha. Wie spannend«, lautete seine Antwort.»Und an was für einen? Halt: Ich weiß schon — an den Panzer!«

Nein, nicht an den Schützenpanzer, sagte ich, obwohl auch das sicherlich lohnenswert wäre. Drei Jahre noch, dann werde er nämlich in so einem Marder vom Kasernenhof zum Schlammrobben gebracht, kurz geschoren.

«Ich glaub nicht«, meinte er.»Die Wehrpflicht wurde abgeschafft, nicht gehört? Außerdem hätte ich verweigert. Niels auch.«

«Na, darin habt ihr ja Übung.«

Was mir durch den Kopf gehe, sei ein Tier, sagte ich, ein ganz bestimmter Marder. Ich würde ihm davon erzählen, sobald er den Film gelöscht habe.

«No way!«, kam es triumphal zurück.»Den behalt ich, bis ich achtzehn bin. Wer weiß, vielleicht stell ich ihn sogar ins Netz.«

Unser Scheinwerferlicht huschte über ein grünes Schild, das uns mitteilte, wie weit es bis Caen war, keine zwanzig Kilometer. Ich sah es und er sah es, somit war uns beiden klar, wie viel Zeit ihm noch blieb. Ich war gespannt, ob er einlenken würde, und falls er es tat, wie er es anstellen wollte, dabei das Gesicht zu wahren. Denn darum ging es ja wohl.