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Ich wusste nichts zu erwidern. Ich konnte ihr nicht folgen und wollte Ira auch gar nicht folgen bis vor die graue Wand.

«Hör auf, dir das Hirn zu zermartern. Nimm deine Tabletten, nimm sie regelmäßig. Geh zum Arzt. Geh zu der Gruppe, wo du früher warst, das war doch immer gut. Lass dich von dem negativen Kram nicht so anfressen und runterreißen.«

Meistens hatte ich nur Phrasen gedroschen.

«Ich weiß«, lautete für gewöhnlich ihre Antwort, sobald sie sich müde geredet hatte,»ich weiß ja«— was zwar genauso mechanisch klang, dafür aber ehrlich war. Und es folgte ihr Seufzen, bei dem es mir den Magen umdrehte, oder noch schlimmer das traurige Lächeln, mit dem sie in der Terrassentür stand und den Zigarettenrauch in die Nachtluft blies.

«Du musst Lewandowskis anrufen«, sagte sie.»Bitte mach du das. Ruf sie an und frag sie, ob er die nächsten zwei Wochen bei ihnen sein kann.«

Bevor ich nur an Jesse gedacht hatte, redete sie von ihm. Ihren Kummer sah sie mit seinen Augen, aus seinem Blickwinkel.»Wie als Mutter deinem Kind begreiflich machen, dass du in jedem Zimmer, auch in seinem, einen Abgrund siehst?«

Ihre verrätselten Fragen machten sie mir fremd und fremder. Ich hatte schon so lange nichts mehr zu ihr gesagt, das bis zu ihr durchgedrungen wäre.

«Versuchen Sie es, indem Sie geduldig einatmen, Ira, ein und aus, ein und aus, und wieder ein …«, sagte ihr Arzt sehr ruhig, und das stimmte auch sie eine Zeit lang ruhig.

Mir fielen nur Platitüden ein oder, wenn ich Hemingway las, Hemingway-Zitate, und bestenfalls fragte Ira dann, wie alt die Übersetzung war.

Achselzucken.»Älter als wir wahrscheinlich, keine Ahnung. Sicher ist bloß, dass kein Pferd mit Namen ›Trübsal‹ je ein Rennen gewonnen hat. «Das sagte der todkranke Oberst in Über den Fluss und in die Wälder.

Sie lächelte. Im Vorbeigehen strich sie mir über den Arm.

«Bitte ruf Lewandowskis an. Die Nummer ist gespeichert.«

Ich rief an. Jesses Bereitschaftspflegeeltern würden in den nächsten zwei Wochen da sein, der Junge konnte gern zu ihnen kommen. Lewandowskis hatten noch nie nein gesagt.

Wenn Ira von Jesse erzählte, huschte über ihr Gesicht ihr Mädchenlächeln, das sich nie verändert hatte. Ich erkannte es, auch wenn es in dem Haus noch so finster war, und liebte es, gerade weil es so schwierig geworden war, sie zu lieben und nicht bloß Mitleid mit ihr zu haben. Wenn Ira lächelte, schienen mir die vielen gemeinsam verbrachten Jahre nicht verloren zu sein, vielleicht weil wir, wie als Kinder so oft, dasselbe dachten.

Was mir allmählich dämmerte, wusste sie längst: Das Blatt, mit dem sich alles wenden würde, war für sie zu schwer. Jesse würde es anheben müssen, das für seine Mutter zu schwer gewordene Blatt würde er in die Höhe stemmen und die Seite umschlagen. Mit ihrem Sohn begann ein neues Kapitel.

Anfangs war sie sich der Tragweite des Gedankens, der sich da in ihr festsetzte, vielleicht gar nicht bewusst. Mich packte eine rasende Angst um sie, sobald ich begriff, wie weit ihre Bereitschaft, sich aufzugeben, vorangeschritten war.

Für sie hingegen war es schon lange Gewissheit: Indem sie ihrem Sohn die eigene Lebensaufgabe überantwortete, gab es für sie selber nichts mehr, was eine Anstrengung lohnte. Tragweite war da für sie längst kein Kriterium mehr.

Gedanken an Ira hin und her wälzend saß ich vor der Wand, die das Letzte war, was sie gesehen hatte. Es waren Gedanken zum Weinen, düstere Vorstellungen voller Selbstanklagen, die ich zur Genüge kannte, mir aber nicht aus dem Kopf schlagen konnte. Da sitzt du in deinem vollgepackten Wagen und starrst gegen eine Garagenwand. Guck durchs Fenster, dieses Bullauge. Draußen im Oktoberlicht blinken Käfer und Fliegen, während dir hier im Halbdunkel der einzige Mensch durch den Sinn geistert, den du liebgehabt hast. Wie willst du je aus diesem Schlamassel wieder rauskommen.

Nach Iras Tod hatten meine Eltern das Haus in Schnelsen aufgegeben. Um Jesse den Übergang so einfach wie möglich zu machen, zogen sie zu ihm nach Wellingsbüttel und setzten dem Unglück das entgegen, worin sie Fachleute waren, das Meistern des Alltags. Nur die Garage klammerte ihr Pragmatismus aus. Sie war Tatort und Mahnmal, Tor zur Unterwelt und Schandfleck, ein unverständlicher Ort. Deshalb stand sie leer und wurde zu einem nach Benzin stinkenden Mausoleum, in das außer mir keiner einen Fuß setzte.

Wenn ich die drei besuchte, stellte ich den Wagen übers Wochenende in die Garage. Bevor ich ins Haus ging, blieb ich so lange im Auto sitzen, bis der graue Steinquader mit seinem kreisrunden Fensterloch den Gruftcharakter verlor. Nach dem Abendessen ging ich vor die Tür, rauchte eine Zigarette und schloss die Garage noch einmal auf. Ich wuchtete das Tor in die Höhe, setzte mich ans Steuer, drückte im Ascher die Zigarette aus und wartete, dass sie sich einstellten: Meine Gedanken in Iras Garage waren immer dieselben. Manchmal dauerte es keine Minute, schon sah ich sie vor mir, wie sie rauchend in der Terrassentür stand, sah sie lächeln, ihr Mädchengesicht, ihre langen dünnen Beine in der Turnhalle bei einem Sportfest oder wie sie mit einer Freundin auf dem Gepäckträger nach Haus fuhr. Ich hörte ihre Stimme, die dunkel war und so wenig zu dem schmalen Körper passte. Unerklärlich langsam kam mir die Stimme meiner Schwester vor, wenn sie Sätze sagte, die so nur sie sagte.

«Ist überhaupt jemand in der Lage, einen entscheidenden Augenblick zu erkennen?«

Wenn das Wochenende vorbei war, setzte ich mich sonntagabends oder montagmorgens ins Auto und fuhr den Wagen ins Freie. Kaum war das Tor geschlossen, verschwanden Gedanken und Fragen, ganz so, als blieben sie bei meiner toten Schwester in der Garage.

Seit Längerem hatte mein Vater vor, die Garage abreißen zu lassen und eine neue zu bauen. Sie sollte an derselben Stelle stehen und sah auf den Plänen genauso wie die alte aus, war es aber nicht. Sie würde einen Zugang zum Haus haben. Und es würde eine Sicherheitsbelüftung geben. Mein Vater zeichnete detaillierte Pläne, wie früher, und sogar einen Rapido, einen Rapidographen schaffte er sich dafür noch einmal an, weil er sein altes Tuschzeichnerset schon vor Jahren mir vermacht hatte.

Seit März schob er das Vorhaben auf. Auch wenn meine Eltern die Garagenandachten ihres Sohnes makaber fanden, wenn sie lieber, wie es sich gehörte, nach Ohlsdorf zum Friedhof spazierten und meinten, Jesse untersagen zu müssen, die Garage zu betreten oder mit seinem Freund Niels Basketball davor zu spielen, so sahen sie mit der Zeit doch ein, dass mich nichts so tröstete wie vor Iras Wand zu sitzen.

Wenn meine Mutter mich fragte, warum ich nicht endlich damit aufhörte, gab ich zurück, dass ich es bleiben ließe, sobald ich darüber weg sei. Aber das stimmte nicht. Ich glaubte keinen Augenblick lang, je über Iras Tod hinwegkommen zu können, und wollte es auch gar nicht.

2

Im Rückspiegel sah ich unten an der Straße meine Mutter stehen und aufgeregt Zeichen geben. Es war nicht zu erkennen, wem ihr Winken galt, wahrscheinlich aber meinem Vater, der in allem der Besonnenere war. Das Licht blendete. Die Konturen meiner Mutter verschwammen darin. Entfernt erinnerten sie an Iras, sodass ich die Augen verengte und mich für ein paar Momente der Illusion überließ.

Jesse reagierte für gewöhnlich nicht auf Kommandos. Seit er in den pubertären Taumel eingetreten war, brauchte er länger als sein Opa, um den Vorgarten zu durchqueren. Meine Mutter schien den Startschuss zum allgemeinen Verabschieden gegeben zu haben, und so ließ sich zwar einigermaßen vorausberechnen, wann auch ihr Mann an der Straße stehen würde, nicht aber, wann ihr Enkel bereit war, zu seinem Onkel in den Wagen zu steigen. Der Onkel war ich, Onkel Markus. Jesse, an dessen Schule jeder Vorname amerikanisiert wurde, nannte mich manchmal Marky Mark. Meine Mutter signalisierte, dass die Straße frei war. Ein letztes Mal starrte ich auf die Wand und die hellblaue Iris des Bullauges darin, dann ließ ich den Motor an. Während ich den Kombi langsam zurücksetzte, sah ich über der Hecke den weißen Haarschopf meines Vaters, wie er sich hinunter zum Fuß der Auffahrt bewegte. Die Herbstsonne stand tief, und ich überlegte, wo ich meine Sonnenbrille gelassen hatte.