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Bretteville-l’Orgueilleuse, Sainte-Croix-Grand-Tonne. Kaum waren die gelben Lichter von Bayeux in Sicht, konnte Jesse nicht länger an sich halten. Als müsse er sich für die Wiedervereinigung mit seinem lang vermissten Gagpartner in Stimmung bringen, brach die Albernheit aus ihm hervor. Hatte ich das gesehen, auf dem Schild? Drei Bindestriche in einem Ortsnamen! Man stelle sich vor, Bretteville-l’Orgueilleuse würde sich mit Sainte-Croix-Grand-Tonne zu einer Ortschaft verbinden. Wie würde sie heißen, wenn weder Bretteville-l’Orgueilleuse noch Sainte-Croix-Grand-Tonne auf den eigenen Namen verzichten wollte? Sainte-Croix-Grand-Tonne-Bretteville-l’Orgueilleuse? Bretteville-l’Orgueilleuse-Sainte-Croix-Grand-Tonne? Genauso gut war natürlich Grand-Tonne-l’Orgueilleuse-Sainte-Croix-Bretteville möglich.

«Irgendwann, wer weiß«, sagte er,»wird dann jedes Kaff in der Normandie Teil des einen großen Namens sein — eines Namens aus hunderten Namen mit hunderten Bindestrichen! Ich kann ja mal versuchen, ihn zusammenzukriegen. «Er hielt sich die Karte dicht vors Gesicht.»Soll ich?«

«Nein.«

Mit dem immer längere Ortsnamen aneinanderhängenden Jungen neben mir ging ich die kleine Geschichte meiner Konfliktscheu im Stillen noch mal durch und fragte mich, wie ich mit Jesse zurechtkommen sollte, wenn erst der große Krach zwischen uns ausbrach. Unser Scharmützel auf der Raststättenbrücke bei Osnabrück, sein Beleidigtsein, mein Zorn, sein Versteckspielen in Aumale — wieder an einer Brücke — , meine Unnachgiebigkeit und seine Weigerung, den Film zu löschen, waren mit Sicherheit nur die Vorboten eines Streits, den wir noch auszufechten hatten.

Noch waren wir nicht mal am Ziel. Saint-Martin-des-Entrées, Saint-Vigor-le-Grand. Immer mehr Weiler, Dörfer und Städtchen wurden eingemeindet in das imaginäre Ballungszentrum im Bessin, das Jesse aus Klängen zusammensetzte und dessen Name bald so viele Bindestriche hatte wie er Lebensjahre. Eine Woche und ein Tag in einem leerstehenden Strandhotel und auf alten Brücken. Eine Woche und ein Tag an verwunschenen Flussufern und zwischen Betontrümmern der einstigen Landungspontons von Gold Beach. Acht Tage lang herumkraxeln in Flakgeschützbunkern und Seevögelkolonien. Acht Tage lang Tischtennis im Hotelkeller mit Niels, seinen Eltern und Geschwistern. Achtmal Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. Spaziergänge, Ausflüge, Spieleabende. Acht Nächte. Es war falsch und fahrlässig, wenn ich mit ihm nicht über Ira sprach. Es war gefährlich nicht nur für Jesse, sondern auch mich, wenn wir weiterhin das Einzige, was uns wirklich verband, unter den Teppich kehrten, weil es uns beiden das Leben schwermachte.

Wie richtig ich damit lag, zeigte sich nur wenige Minuten später. Als ich kurz hinter Bayeux abbog Richtung Küste, kamen wir auf eine schmale, stockfinstere Landstraße, die sich Route d’Arromanches nannte. Schief und knorrig säumten den Straßenrand vom Wind gebeutelte Platanen mit fleckiger Borke. Ein paar Kilometer vor dem Weiler La Rosière, wo sich zum letzten oder vorletzten Mal der Weg gabelte, kamen wir auf der dem Meer zustrebenden Allee an einem Autounfall vorbei, der erst kurz zuvor passiert sein musste.

Ein weißer oder ehemals weißer Kleintransporter mit offener Ladefläche war gegen einen der Bäume gedrückt worden und stand schräg auf dem Böschungsstreifen. Die Windschutzscheibe war aus dem Rahmen geplatzt und lag auf der Motorhaube, als hätte dort ein Riese eine Kontaktlinse verloren. Zwei andere Wagen, einer mit niederländischem Kennzeichen, hatten angehalten und den Warnblinker eingeschaltet. Und plötzlich, nach vier Stunden Fahrt durch ein wie menschenleeres Land, waren da auch Leute.

«Oha!«, rief Jesse.

Ich bremste ab und schaltete in den zweiten Gang. Der holländische Wagen war ein alter Rover und gehörte einer Familie. Kofferraum und Fahrertür standen offen, und der Fahrer war ausgestiegen. Als ich im Schritttempo vorbeifuhr, sah man auf dem Beifahrersitz eine Frau, die sich umdrehte zu drei Kindern auf der Rückbank. Alle drei Kleinen weinten.

Als Nächstes passierten wir den verunglückten Pick-up. Es schien keine Toten zu geben. Ein älterer Mann mit ausgebeulten Hosen lehnte am Heck und presste sich etwas gegen die Stirn. Es sah aus, als liefe Blut an seinem erhobenen Arm hinab, doch war ich mir nicht sicher.

«Der blutet ja«, sagte Jesse im nächsten Moment.»Lass uns anhalten. Soll ich nicht fragen, ob wir helfen können?«

Aber es standen ja schon zwei Männer bei dem Alten, einer mit Verbandskasten, der andere mit einem Handy am Ohr. Jesse ließ die Scheibe nach unten. Als ich stoppte, fragte er, was er sagen solle, und sagte dann, ohne dass ich ihm geantwortet hätte, etwas auf Französisch, das ich nicht mal zur Hälfte verstand. Die beiden Helfer drehten sich um, hoben jeder eine Hand und schüttelten den Kopf. Angestrahlt von den Scheinwerfern des Rover, hinter sich die dunkelblaue Nacht und vor sich den blutenden Alten, sahen sie einigermaßen zum Fürchten aus, wie Engel, aber keine guten. Der mit dem Verbandskasten hatte einen struppigen weißen Pferdeschwanz, und der um einiges jüngere mit dem Handy telefonierte die ganze Zeit.

«Nichts Schlimmes passiert«, sagte Jesse.»Hast du die gesehen? Die sahen echt wie Zombies aus, ganz bleich waren die im Gesicht, und ihre Augen rot wie Himbeermarmelade.«

Ich nickte. Wie Untote, das hätte ich auch gedacht, sagte ich, und beide mussten wir lachen, keuchten aber bloß.

Ob ich mal einen gesehen hätte, fragte Jesse und meinte es offenbar ernst.

«Du meinst … einen Untoten?«

Jetzt nickte er und sah mich von seiner dunklen Seite her aus zusammengekniffenen Augen an.

Und ich sagte:»Oh ja, schon oft.«

«Nicht in echt, oder?«

«Doch. Jeden Morgen sehe ich einen bei mir im Badezimmer. Der wankt vor den Spiegel, und dann starrt er mich aus blutunterlaufenen Augen an.«

«Okay, Zombie, gib Speed!«

Aber das tat ich nicht, und so rutschten wir langsam und ohne dass wir es hätten ahnen können, hinein in einen weiteren Augenblick, in dem das Blatt sich wendet. Es war ein Moment wie aus einer anderen Zeit, vollkommen eingepasst in das Gefüge des Abends und doch auf der Stelle zu erkennen als etwas» Wunderseliges«, wie Keller vielleicht gesagt hätte. Jesses Seitenfenster war noch offen. Er lehnte sich hinaus, sah zurück zu dem Baum mit dem Unfallauto und dem blutenden Alten darunter und berichtete, ob die beiden Untoten ihr Opfer als Nächstes in Stücke rissen — was sie anscheinend auf später verschoben. Irgendwo spielte Musik, aber es war nicht auszumachen, woher sie kam.

Im Schritttempo passierten wir den dritten Wagen, einen kleinen hellroten Lancia, dessen Scheinwerfer brannten und der am Heck lauter Aufkleber hatte. In dem Auto saßen zwei Jugendliche, junge Männer, meinte ich, war mir jedoch nicht sicher, denn beide hatten sie mindestens so lange Haare wie Jesse. Der eine vorn telefonierte, aber der andere, der hinten saß, rauchte und lachte sich kaputt. Worüber? Was fand dieser junge Bursche oder dieses Mädchen so komisch? Bloß eine Übersprunghandlung vielleicht. Noch eine nächtliche Autobahnfahrt fiel mir wieder ein. Mit ihrem alten Strich-Achter waren meine Eltern zusammen mit meiner Schwester und mir an einem schweren Unfall vorbeigekommen. Zerknäulte und zerbeulte Autos hatten kreuz und quer auf der ölverschmierten Fahrbahn gestanden, und in einem davon, einem Ford, aus dem gelbe und blaue Flammen in die Dunkelheit loderten, sahen Ira und ich vom Rücksitz aus eine Gestalt, die reglos am Steuer saß und verbrannte. Gelacht wie der Teenager in dem Lancia hatten wir nicht, und doch waren wir so etwas wie eine verschämte Belustigung nicht mehr losgeworden. Wir rückten nah zusammen, spürten den Oberschenkel des anderen und meinten, eins geworden zu sein, ein einzelner Mensch mit zwei Gesichtern, vier Händen und Augen. Fast fühlte ich eine stille Freude, nur ließ sich nicht sagen, wieso. Ich sah sie auch Ira an, sah in ihrer Miene und spürte zugleich in mir selbst, dass unsere Freude angesichts der Gespenstigkeit der Nacht uns gegen alles gleichgültig machte, was unsere Eltern an Erklärungen und Beschwichtigungen vorbrachten. Es war diese schützende Gleichgültigkeit, die ich in dem Lachen des Teenagers in dem Lancia wiedererkannte und die mich an dem fremden Gesicht rührte. Doch das war nicht das Entscheidende.