Die Musik, die man hörte, kam aus dem Auto. Sie drang hinaus in die Nacht, nicht sehr laut und doch laut genug, um Grillen oder Zikaden und ein noch weit entferntes Martinshorn, das durch die Stille über den dunklen Feldern rasch näher kam, zu übertönen. Was wir hörten, war ein Lied, das wir beide gut kannten. Es war Iras Lieblingsstück von ihrem Lieblingsalbum, der Song, den sie in der Garage vermutlich zuletzt gehört hatte. Jesse war für zwei Wochen bei Lewandowskis untergebracht gewesen, sodass einer Postbotin erst nach einer Weile ein Zettel an der Haustür auffiel, auf dem» Rufen Sie die Feuerwehr «stand. Als die Männer das Garagentor aufbrachen und Ira fanden, lief zwar keine Musik mehr, doch in ihrem alten Alfa war die Anlage eingeschaltet, und eine CD steckte darin. Sie liebte Tusk, seit wir dreizehn oder vierzehn gewesen waren. Auf dem Album sang Stevie Nicks mit ihrer rauen, unerklärlich langsamen warmen Stimme» Sara«, und dieses traurigste Stück von Fleetwood Mac, das Ira so gern gehabt hatte, hörte man aus dem Lancia am Straßenrand zwischen Bayeux und Arromanches.
18
Vorbei an dunklen Gehöften und hell erleuchteten Ferienhäusern fuhren wir weiter bis La Rosière. Ich bog links ab auf die Straße, die nach Longues führte, und kurz darauf tauchte der erste Wegweiser Richtung Hotel auf. Acht Kilometer waren es noch bis Le Mesnil. Auf einer umketteten Grünfläche, die La Rosières Dorfmitte markierte, stand unter einer Pappelgruppe und angestrahlt von zwei Laternen ein mächtiger ockergelber Panzer. Sein Turmrohr schien nur auf uns zu zielen.
Seit dem Unfall redete Jesse nicht mehr mit mir. Bis das bullige Stahlungetüm hinter einer Straßenbiegung verschwand, folgten seine Blicke dem Tank, der gefleckt war wie eine Platane. Während wir das menschenleere Nest hinter uns ließen und erneut zwischen dunklen Äckern und Stoppelfeldern hindurchfuhren, erklärte ich ihm, dass mit solchen Churchill-Sturmpanzern die britische Infanterie über den Ärmelkanal gekommen und zwischen Arromanches und Longues bei Gold Beach gelandet war.
«Kannst du dir vorstellen«, fragte ich, um ihn abzulenken,»dass draußen vor der Küste noch immer dutzende dieser Panzer auf dem Meeresgrund liegen? Es war ziemlich hoher Seegang am Tag der Landung, und von überall am Strand schossen die Deutschen mit ihren Mörsern auf alles, was sich bewegte.«
Er antwortete nicht. Was ich erzählte, schien ihn nicht zu interessieren. Als ich wieder zu ihm hinübersah, hatte Jesse sein Handy in der Hand, hielt es sich diesmal aber ans Ohr und wartete. Sicher rief er Niels an, um ihm zu sagen, dass wir bald schon am Hotel sein würden.
«Hey, Alter, bin gleich da«, sagte er dann tatsächlich; ruhig, gedämpft, fast bedrückt klang er.»Nein. Sind durchgefahren und gleich da, zehn Minuten vielleicht.«
«Frag ihn, ob es ein Tor gibt«, sagte ich.
Und Jesse fragte.»Kommen wir da rein?«
Schon war das Gespräch beendet. Knapp, effizient, dabei nicht unherzlich — so machte man das. Das Smartphone wanderte zurück in die Hosentasche.
«Film ist gelöscht«, sagte er.
Wirklich erstaunt von dieser generösen Geste war ich nicht. In Kürze hatte er wieder seinen um einiges lustigeren Freund an der Seite, mein derber Slapstick war da nicht länger vonnöten. Irritierend fand ich bloß seinen rapiden Stimmungsabfall. Frag ihn nach den Gründen, sagte ich mir, sei nicht so verstockt, los!
«Danke. Das ist gut. Nett von dir«, sagte ich stattdessen.
Als er nach einer Weile erneut in tiefes Schweigen versunken war, fragte ich ihn, was Niels gesagt hatte.
Gab es ein Tor, konnten wir aufs Gelände fahren?
Inzwischen war es nach zehn.
Keine Antwort.
Stumm wie die Dunkelheit. Die Nacht war schwarz, von darin herumsuchenden Scheinwerfern nur strichweise erhellt. Man sah überall halb kahle Sträucher, Hecken, Knicks, immer wieder hypertrophische alte Bäume, Pappeln und Kastanien, in die der unermüdliche Wind fuhr und deren Kronen die Allee überwölbten, während ihre Wurzeln salziges Wasser aus dem Boden zogen. Man sah letzte weite Felder, abgeerntete Stoppeln, Hafer vielleicht oder Roggen, dann wieder Lupinen, Lupinenfelder bis zur Steilküste, wo das Land endlich abbrach.
«Na, wir werden’s ja gleich erleben«, sagte ich hilflos und erschöpft und suchte mein Heil nicht länger in Seitenblicken. Pünktlich zum Auftakt eines fröhlichen Chansons der offenbar sehr jungen Sängerin Babet schaltete ich das Radio ein.
«Je pense à nous«, sang sie.
Das verstand sogar ich.
«Sonst schlafen wir halt im Auto. Oder Niels zeigt uns einen Durchschlupf«, sagte ich.»Ob es eine Mauer gibt, was meinst du?«
«Die in so einem Panzer, ich meine einem, der so kurz vor der Küste getroffen wurde und unterging, die Soldaten dadrin«, sagte Jesse und blickte dabei in die Dunkelheit voller Bäume und Felder vor seinem Fenster,»meinst du, die haben Musik gehört?«
Könne ich mir nicht vorstellen, gab ich zurück, weil es ja damals, 1944, noch keine tragbaren Radios gab. Und falls doch, dann waren es riesige Röhrenkästen, für die in so einem Panzer der Invasionstruppen kein Platz war.»Außerdem hatten die sicher anderes im Kopf«, sagte ich.»Aber wer weiß.«
Und Jesse sagte:»Klar. War bloß so ’ne Idee.«
Er habe sich das einfach mal vorgestellt: So ein Landungsschiff mit lauter Soldaten und Panzern an Bord wurde getroffen und sank. Die Soldaten hatten keine Chance rauszukommen. Sie saßen fest, und ihr Panzer, der ging unter wie eine Gehwegplatte in einem Ententeich. Oder?
«Ja. So ungefähr.«
«Von Enten steht ja auch was in dem Buch, das Opa dir geliehen hat. Der Flieger, dieser Lastenseglerflieger, der unseren Nachnamen hat, obwohl er ja Engländer ist und man den Namen da anders ausspricht, der schreibt in dem Buch, dass sein Horsa-Segler auf die Erde fiel wie eine abgeknallte Ente.«
«Ah ja? Wann hast du das gelesen?«
«Vorhin. Bei unserer Rast. Als du spazieren warst. Bevor ich dich gefilmt habe. Ich mag das Buch. Es ist lustig. Na ja, immer wieder mal lustig. Er schreibt, dass sie richtig runterklatschten, er und die Soldaten in dem Segler, aber dass sie Glück hatten, weil sie auf einem arschnackten Hügel landeten. Aber ein anderer Segler stürzte in einen kleinen See, und dabei ertrank der Pilot, ein Freund von diesem McCoy Lee.«
«Wenn du Lust hast, können wir uns den Hügel ansehen«, sagte ich,»den gibt es bestimmt noch. Fragt sich bloß, ob er immer noch arschnackt ist.«
Er ging nicht auf mein Angebot ein.»In dem Segler von diesem Lee ist keiner gestorben«, sagte er stattdessen.»Die haben es alle ins Freie geschafft. Die Horsas waren aus Holz, wusstest du das? Dass sie bei der Landung kaputtgehen, war Absicht. Und man konnte das gesamte Heck absprengen. So konnten alle raus. Und das ist der Unterschied. Die in so einem Panzer konnten nirgends mehr hin. Nur sind sie deshalb nicht sofort gestorben. Was haben die so lange gemacht, meine ich. Die hatten ja noch Luft, die konnten atmen und sich unterhalten. Aber sie wussten, sie sterben, sie wussten, eigentlich sind wir schon tot.«
«Schwer vorstellbar«, sagte ich mit trockener Kehle,»grauenhaft. Aber weißt du, es war Krieg. Viele haben bestimmt nicht damit gerechnet, es zu schaffen, und das hat es ihnen vielleicht leichter gemacht. Hey, und wer weiß! Hatten die auch kein Radio — einer hat vielleicht gesungen, oder wenigstens gepfiffen. Bestimmt hat McCoy Lee gepfiffen. Jemand, der von arschnackten Hügeln redet, der pfeift, wenn es eng wird.«