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Und eine Insel für Beobachter. Alle wussten dort von jedem alles. Sie erzählte belustigt und mit leichtem Akzent, dass sie Ove schon immer kannte. Solange sie denken konnte, gab es ihn.

Seit zwanzig Jahren lebten sie in Hamburg. Aber sie waren viel unterwegs gewesen. Zwischen Ostsee und Nordsee fuhren sie von einem Schutzgebiet zum nächsten, und seit man mit der Kleinen alles machen konnte, tingelten sie in den Herbst- und Winterferien durch leerstehende Hotels. Sie hatten immer Glück gehabt.

Maybritt setzte sich zu ihrer Tochter an den fertig gedeckten Tisch.»Dabei sind mir Vögel piepegal! Nimm dir bitte einen Stuhl.«

Im L’Angleterre hatten sie schon im letzten Herbst eingehütet, und seither war niemand hier gewesen. Die eingeworfenen Fenster mussten ausgebessert werden. Im dritten Stock gab es Zimmer, die nicht mehr zu betreten waren — inzwischen nisteten darin Möwen. Irgendwo musste auch das Dach undicht sein, weil es im Obergeschoss Wasserflecke an den Decken gab. Und überall neue Risse in der Mauer.

«Ove glaubt, wir kriegen das alles hin, aber ich bin mir da nicht so sicher. Zehn Tage sind wir jetzt hier, und er ist selber erstaunt, wie viele Vögel täglich ankommen. Allein gestern hat er dreihundert Weißstörche gezählt. Ein Rätsel, wo die herkommen. Ich vermute ja, aus Schottland. Ove meint, dass sie wahrscheinlich aus Schweden sind. Dass sie ihre südliche Flugroute geändert haben, auch wenn das nur alle paar hundert Jahre vorkommt. Meinst du, du kannst ihm mit dem Dach ein bisschen helfen? Ich werde natürlich auch die Jungs fragen und ihnen ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen können.«

«Ich wollte mich eh irgendwie nützlich machen.«

Das sagte ich so dahin, ohne nachzudenken. Stattdessen fragte ich mich, woher sie diese Vertraulichkeit nahm, ihr Duzen, die gleichbleibend gute Laune. Ich war ein Fremder. Sie konnte nicht wissen, dass ich mich mit Verbindlichkeiten so wenig auskannte wie mit Störchen und Hausreparaturen.

«Mir sind Vögel auch piepegal«, sagte Cat.»Nicht mal streicheln lassen sich die. «Sie blätterte in einem Ordner voller Klarsichthüllen, in denen bunte Figurenkarten steckten, ein Star Wars: The Clone Wars-Sammelalbum.

«Mach das jetzt mal zu«, sagte ihre Mutter.»Iss dein Marmeladebrot und trink deinen Kakao, dann kannst du weiter sortieren. «Maybritt steckte sich die langen blonden Haare hoch, sodass ich ihre Achseln sah. Obwohl es in der Küche nicht warm war, hatte sie nur ein T-Shirt und eine Jogginghose an.»Möchtest du Kaffee, oder trinkst du morgens Tee?«

«Kaffee, danke, ich schenke mir ein.«

Ich war aber nicht schnell genug, schon langte ihr Arm voller winziger roter Sommersprossen über den Tisch.

Catinka sah mich durchdringend an, während mir ihre Mutter einschenkte. Sehr ernst fragte mich Cat:»Glaubst du auch, dass ich klein bin? Und dass man alles mit mir machen kann?«

«Iss«, sagte Maybritt lächelnd.»Und sei nicht so biestig. So habe ich es nicht gesagt.«

«›Seit man mit der Kleinen alles machen kann‹, hast du gesagt, und damit hast du mich gemeint.«

«Ja, das stimmt, aber ich habe es anders gemeint.«

Mit der Messerspitze kratzte Catinka ein kryptisches Zeichen in die Himbeermarmelade auf ihrer Brotscheibe.

«Wer ist deine Lieblingsfigur?«, fragte ich sie, als sie die Augen verdrehte.»Anakin Skywalker?«

Sie schüttelte den Kopf.»Obi-Wan. Und wen magst du?«

«Padmé Amidala«, sagte ich.»Und weißt du was? Sie sieht dir ein bisschen ähnlich, auch wenn du blond bist und Sommersprossen hast. Das ist mir schon gestern Abend aufgefallen.«

Als Cat nach oben gerannt war, um wenigstens Carlo zu holen, wenn sie schon nicht die Jungs wecken durfte, blieb ich mit Maybritt allein. Ich aß ein Hörnchen und trank meinen Kaffee, und während die fremde Frau in Kevins Dossier blätterte und mir ab und zu eine Frage über diese oder jene Brücke stellte, sah ich den Regenfäden dabei zu, wie sie an den Küchenfenstern hinunterliefen, und folgte mit Blicken den Vögeln. Krähen und ein paar Elstern flogen jetzt mit den Möwen.

Maybritt sah sich die Mappe genau an und erzählte dabei, dass sie in einem Kunstbuchverlag gearbeitet hatte, bis Margo auf die Welt gekommen war. Sechzehn Jahre war das jetzt her.

«Weißt du, was du vor sechzehn Jahren gemacht hast?«

Ich antwortete, dass ich vermutlich nichts gemacht hatte, nicht viel mehr außer Zeichnungen. Alles andere ging sie nichts an. Vor sechzehn Jahren war ich mit Saskia verheiratet gewesen, und Ira war in Israel schwanger geworden. Auch vor sechzehn Jahren hatte ich Hemingway gelesen und mein Leben irgendwie gelebt, hatte Tage und Nächte hinter mich gebracht, die so lange vergangen waren, als hätte es sie nie gegeben.

Seit Catinka in die Schule ging, arbeitete sie wieder, halbtags, von zu Hause aus, online für ein Magazin aus Odense, sagte Maybritt. Sie redigierte Artikel über Natur und Kunst. Abends, wenn sie allein war, übersetzte sie Gedichte von Emily Dickinson ins Dänische, aber das war Hobby. Sie kannte St: art, mochte das Magazin, manchmal kaufte sie es sogar.

«Waren da schon andere Zeichnungen von dir drin?«

«Nein«, log ich.

Einmal, sagte sie, war sie in einer Ausstellung von mir, in einer Galerie im Kontorhausviertel.

«Ist schon paar Jahre her. Ich glaube, sie hieß Vier, weil es um Bilder von vier Städten ging.«

Sie hieß so, weil es meine vierte Einzelausstellung war und mir kein besserer Name einfiel, das sagte ich aber nicht.

«Welche Städte waren es?«, fragte Maybritt eher sich selbst als mich.»New York und Rio, das weiß ich noch. Eine russische. Und Tel Aviv, richtig?«

«Ich glaube.«

Sie ließ sich von meiner Einsilbigkeit nicht beirren:»Ein paar Bilder haben mir gut gefallen, besonders die fast leeren, wo nur noch eine Linie und ein paar Punkte oder Striche zu sehen sind. Hat sich deine Schwester deine Ausstellungen angesehen?«

Jetzt fehlte nur, dass sie sagte, wie leid ihr alles tat.

«Ich hatte nicht sehr viele Ausstellungen.«

Aber sie sagte es nicht, sondern lächelte bloß schön und schwärmte von den beiden Jungs. Jesse sei klasse, ein starker Typ. Sie mochte ihn sehr.

«Hier — «, sie zeigte mir das Foto von der Pegasusbrücke in Kevins Mappe,»ich glaube, von der hängt oben irgendwo in einem Flur eine Zeichnung. Oder? Ich glaube, es ist dieselbe.«

Es gab zwei Pegasusbrücken, eine alte, die abgetragen und in einem Freilichtmuseum am Caen-Kanal wiedererrichtet worden war, und eine viel größere neue. Maybritt schien das nicht zu wissen, und auch darüber hatte ich keine Lust zu reden.

Ich fragte, wer die ganzen Bilder gesammelt hatte, doch sie wusste nicht viel über das Hotel. Es gehörte zwei alten Damen, Schwestern, die zurückgezogen in Cherbourg lebten. Ove telefonierte manchmal mit einem ihrer Söhne, einem Schrott- und Gebrauchtwagenhändler aus Bayeux, der humorvollste Mensch war der nicht grad! Er hieß Flaubert, wie der große Schriftsteller aus der Normandie, der Madame Bovary geschrieben hatte. Mitte der Woche wollte er kommen und nach dem Rechten sehen.

«Dann kannst du Flaubert kennenlernen! Na, ist das was?«

Mit gespielter Vorfreude nickte ich eifrig, und sie freute sich, mich aus der Reserve gelockt zu haben.

Seit zwei Jahren stand das L’Angleterre leer. Es gab wohl einen amerikanischen Kaufinteressenten, aber der schob seine Entscheidung immer wieder hinaus und war außerdem alles andere als glücklich über das Vogelschutzgebiet. Und auch die Mauer wollte er einreißen lassen.

Man hörte Catinka und den Hund auf der Treppe. Carlo sprang in die Küche, roch an meinem Hosenbein, um sicherzugehen, dass ich noch derselbe war wie gestern Nacht, und stellte sich mit wedelndem Stummelschwanz an die Tür, die über ein paar Stufen zum Hotelhof hinaufführte.