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Maybritt ließ ihn hinaus in den Regen.

«Na los! Schieß ab, du Rakete«, rief sie durch einen Schwall kalter Luft, der zur Tür hereinkam. Ich sah, wie sie an den Armen mit dem rötlich blonden Flaum eine Gänsehaut bekam.

Als ich mich umdrehte, lehnte Cat neben mir.

«Hier«, sagte sie im selben Ton wie ihre Mutter und legte mir eine orangerote Sammelkarte mit silbernem Rand auf die Hand.»Ich schenk sie dir. Es ist die schönste von Padmé Amidala, die ich habe. Vorsicht! Sie ist sehr wertvoll.«

Ich ließ die beiden allein und ging nach oben in den ersten Stock, entdeckte dort unter den Hunderten von weiteren Bildern aber nirgends die Zeichnung von der Brücke, die Maybritt Juhl gesehen haben wollte. Ohnehin würde sie mir kaum weiterhelfen können, also war es einerlei. Im zweiten Stock rauschte die Dusche, doch weil nirgends eine Tür offen stand, wusste ich nicht, ob Jesse aufgestanden war oder Niels oder dessen Schwester.

Ich setzte mich auf mein Bett und blätterte das Dossier durch. Am weitesten entfernt war die Ruine des Eisenbahnviadukts von Souleuvre, am schnellsten würde ich an der Pegasusbrücke sein. Nicht gleich den erstbesten, lieber den fernsten Punkt anpeilen, hätte mein Vater gesagt. Nimm das in Angriff, wozu du keine Lust hast, auch wenn das einem Kritzler schwerfällt. Dann kannst du stolz auf dich sein. Und sogar du hast was geschafft. Ich wollte weder etwas schaffen noch leichter durchs Leben kommen, sondern mein Unbehagen behalten. Ich wollte nicht, dass immer alles erklärbar war, alles gesichert, sodass einem nichts zustieß. Gnade! Etwas soll mir zustoßen, etwas wie dreihundert unvermutet auftauchende Störche, wenn nicht heute, dann morgen, irgendwann, Hauptsache bald! Damit steckte ich Kevin Brennickes säuberlich ausgearbeitete D-Day-Mappe in den Rucksack.

Im Anorak stand ich am Fenster, zog mir die Kapuze über den Kopf und starrte auf Sisleys Bild. Es gab sechs Gemälde, die er von der Seine-Überschwemmung im Jahr 1876 gemalt hatte, alle aus verschiedenen Perspektiven, doch immer war darauf dasselbe blassgelbe Haus eines in der ländlichen Gegend westlich von Paris bekannten Weinhändlers zu sehen. In großen Lettern war sein Name an der Fassade zu lesen, A. S. NICOLAS, und auf dem überfluteten Vorplatz des Weinhändlerhauses standen zwei Männer in Gehröcken in einem Kahn und schienen zu staunen über die Unmenge an Wasser, die sie umgab.

Ohne zu überlegen, hängte ich das Bild ab und ging damit in den Flur. Ich kam wieder am Bad vorbei, wo irgendwer endlos duschte, und ging auf das helle Fensterviereck zu, bis ich zur Treppe kam. Ich blickte über das Geländer und horchte. Als nichts außer dem Wasserrauschen zu hören war, nahm ich das Foto von der Wand, hängte dort den Sisley hin und machte, dass ich zurückkam ins Zimmer. Dort rückte ich die Zwillingsschwestern über der Heizung zurecht, bis das Bild gerade hing — und in der offenen Tür stehend sah ich mir an, wie der Raum sich veränderte.

IM HOTELHOF WENDETE ICH, fuhr zum Tor und wartete, bis es offen war, dann reichte mir Maybritt je einen Schlüssel für Haus und Tor zum Seitenfenster herein und wünschte mir gutes Gelingen.

«Wohin fährst du denn zuerst?«, fragte sie und hielt dabei Carlo am Halsband fest, damit er nicht weglief, ins Freie, womöglich irgendwelchen Wildgänsen oder Seemöwenkindern nach.

Es regnete, Catinka zog an ihrer Hand, an der anderen zerrte der Hund, aber diese große blonde Frau war bester Stimmung.

«Weiß noch nicht. Irgendwo werd ich schon landen. Falls etwas ist, hat Jesse meine Nummer.«

Mein Handy, ich sah nach, steckte in meiner Anoraktasche.

Indem ich der Kleinen zuwinkte und sie zurückwinkte, fuhr ich durchs Tor und dann den Schotterweg hinunter. Als rechts Le Mesnil auftauchte, blinkte ich und bog in den Heckenweg Richtung Bayeux. Durchs Seitenfenster roch ich den Duft vom Wind gemarterter Tamarisken, spürte den Seewind und das Nieseln auf der Wange, und ich hörte eine Silbermöwe schreien, die knapp über dem Benz die Straße kreuzte. Vielleicht war sie eine von denen, die oben im Hotel mehrere Zimmer besetzt hielten. Zwischen den Hecken kamen mir am Fahrbahnrand Schulkinder in Regenkleidung entgegen, zehn oder zwölf Mädchen und Jungen in Catinkas Alter, denen ein Lehrer vorauslief und eine Lehrerin folgte. Als ich vorbeifuhr, hörte ich ihren Singsang.»Dans mon cœur il y a pas d’amour, mais y en aura un de ces jours«, sangen Kinder und Lehrer.

Ich hielt mich an die Schilder in Richtung Arromanches-les-Bains und fuhr auf schmalen Küstenstraßen westwärts. Utah und Omaha Beach, wo am D-Day die Erste US-Armee gelandet war, lagen hinter mir, im Westen folgten Gold, Juno und Sword Beach, doch die Landestellen der Zweiten britischen Armee und die an diesen Küstenabschnitten eingerichteten Gedenkstätten und Museen waren erst hinter Arromanches zu finden. Sobald die Straße dicht an den Strand führte, konnte man Bunker sehen, die halb zerborsten und eingesunken in den Dünen steckten und schwarze, über den Ärmelkanal blickende Schießschartenschlitze hatten. Ein Sandweg führte zwischen begrasten Dünen hindurch zur See hinunter. Dort stoppte ich im Schatten eines tiefvioletten Stechginsterbuschs. Ein Schwarm gelbgrüner Vögel hatte sich darin niedergelassen, Goldammern vielleicht. Lass sie Goldammern sein, dachte ich, als sie so lange in ihren lila Raschelzweigen sitzen blieben, bis ich ausstieg. Zwitschernd und schimpfend stoben sie davon in die Dünen. Ich ging zum Wasser hinunter, vorbei an weiteren, immer kurioser geformten Ginsterbüschen. In einem steckte ein weißes Damenrad, halb verrostet, halb überwuchert, mit einem Korb auf dem Gepäckträger, in dem noch das zusammengerollte, plastiküberzogene Kettenschloss lag.

Niemand sonst war am Strand unterwegs, nur weit entfernt sah ich im Regen einen großen Hund herumtollen, aber keinen Menschen, zu dem er gehörte. Ein paar hundert Meter weiter ragten Betonklötze aus dem Meer, Überreste von» Mulberry A«, an denen die Wellen sich brachen. Auf den Ponton- und Senkkastenruinen des schwimmenden Hafens, den Amerikaner und Briten am Tag nach dem D-Day aufzubauen begonnen hatten, bis ein Junisturm alles zertrümmerte, hockten Vögel mit langem Hals und Stummelbeinen so regungslos, dass sie genauso gut Pumpenrohre oder Relikte eines vom Rost zernagten Geländers hätten sein können. Dunst hing über der Brandung, und nirgends war ein Wolkenloch, durch das etwas Helligkeit hätte funkeln können. Ein Licht wie Schüttgut, das abgefangen wurde vom Nebel und zerstob. Von überall her kam ein Geruch nach Tang oder Algen, sogar aus den Dünen, obwohl nirgends eine Alge zu sehen war, und in der Ferne, dort, wo er eben noch herumgetollt hatte, sah ich auch den Hund nicht mehr. Auf einmal war er verschwunden, als wäre er nie da gewesen oder davongeweht worden, weil der Wind gerade nichts Besseres gefunden hatte.

Im Wagen rauchte ich meine Morgenzigarette, wärmte mich auf und beobachtete die Goldammern, die in sicherer Entfernung auf ihrer Düne herumhopsend abzuwarten schienen, wann ich endlich diesen Stechginster zufrieden ließ, von dem sie ein Geheimnis kannten, das ich nie erfahren würde. Wie ich sie beobachtete, genau so beobachteten sie mich. Ein alberner Mann, der staunend aus seiner fahrbaren Brombeerhecke äugte. Einer, der es eine Viertelstunde lang am Meer aushielt, ehe es ihn in die dampfende Wärme seines Lebens zurücktrieb, wo er enttäuscht feststellte, dass sich in seiner Abwesenheit die Welt nicht verändert hatte. Sie blieb, wie sie war, und blieb sich treu, die Goldammern, die gar keine Goldammern waren, wussten das und machten es ihr nach, und die Sanddünen und das Meer wussten es ebenso und änderten sich ebenso wenig. Sie wussten es schon lange: Die Welt und alle, die sie liebten, hatten es satt, sich andauernd ändern zu müssen.

Das Einzige, was sich nicht veränderte, waren die Gegenstände. Zwar bekamen sie Dellen oder Schrammen, nutzten ab, gingen kaputt und zerfielen wie das weiße Damenrad in dem Stechginsterbusch. Aber alles, was sie veränderte, kam von außen, nichts von ihnen selbst, die bloß dastanden und abzuwarten schienen. Iras schwarzer Sarg, die fünfunddreißig Jahre alte Giulietta, deren Abgase sie mit einem Schlauch ins Wageninnere geleitet hatte, verkauften meine Eltern an einen iranischen Gebrauchtwagenhöker in Rothenburgsort. Ich war froh, dass mein Vater sich durchgesetzt hatte und der Alfa nicht verschrottet worden war. Sooft ich konnte, war ich in den letzten elf Monaten an dem umzäunten Autohof gleich bei der S-Bahn-Station vorbeigefahren. Doch ob es schneite oder die Julisonne schien, der schwarze Wagen stand unverändert unter Herrn Hosainzadehs Wimpelgirlande. Keine zwei Wochen war es her, dass ich zuletzt mit dem Gedanken gespielt hatte, ihm den Tausch meines Mercedes gegen seine Giulietta vorzuschlagen.