Schluss mit diesem Strandausflug an einem Regentag. Ich fuhr weiter, nach Arromanches, bog aber kurz nach den ersten verrammelten Eisdielen des Küstenstädtchens ab und folgte der D516 nach Süden. Die Straße wurde breiter, allmählich wurde sie Chaussee, und noch immer reihten sich verkrüppelte Platanen aneinander und folgten Äcker auf Stoppelfelder und Waldinseln auf Brachland. Ich kam durch ein Dorf. Babets Chanson schwirrte mir durch den Kopf. Je pense à nous. Wie viele Jeeps, Kettenfahrzeuge und Lastwagen mit Haubitzenanhängern sind hier vor fast siebzig Jahren durchgekommen, fragte ich mich, als ich auf einer umketteten Grünfläche einen Panzer stehen sah, ockergelb, unter einer Pappelgruppe. Es war Jesses Churchill-Panzer, kein Zweifel. Im Rückspiegel sah es immer noch aus, als würde sein Turmrohr nur auf mich zielen.
Und tatsächlich kam ich kurz nach La Rosière auch zu dem Unfallort vom vorigen Abend. Der weiße Pick-up mit der herausgeplatzten Windschutzscheibe stand am Straßenrand, unverändert bis auf eine über die Fahrerkabine gespannte Plane. Aber auch der rote Kleinwagen war noch da, und deshalb hielt ich an.
Weil niemand in der Nähe war, stieg ich aus. Ich lief um den Lancia herum und sah, dass die Beifahrerseite fast auf ganzer Länge zerbeult und beide Radkästen so eingedellt waren, dass sie die Räder blockierten. Über die Frontschürze des Peugeot verlief eine rote Lackspur, für einen Unfallsachverständigen ein Indiz, für mich Nebensache.
Der Lancia war abgeschlossen. Ein Rücksitzfenster aber hatte den Zusammenprall nicht überstanden und war zerborsten und zu Bruch gegangen. Ich griff durch das Loch und entriegelte die Beifahrertür.
Kein einziger Wagen kam vorbei. Es war ein verregneter Oktoberdienstag, und ich stand allein an einer Straße zum Meer. Jeeps, Motorräder, Pontonbrückenlaster, Panzer, Lazarettwagen, Funkwagen und Lafettentransporter waren in endloser Folge auf der Straße von Arromanches nach Bayeux ins Landesinnere gerollt, Frühsommer war es gewesen, aber kühl und stürmisch, Juni 1944, und die schmale Chaussee war übersät mit Unrat und Gerümpel. Alles Mögliche, das auf der Flucht von den Autodächern geworfen wurde, damit Leute darauf mitfahren konnten, war am Straßenrand liegen geblieben, Matratzen, Fahrräder, Kanister, ein Puppenhaus, Hühnerkäfige. Blaugraue Wehrmachtkrads steckten im Straßengraben, in einem Beiwagen ein toter Landser mit bestürztem, vom Morast halb verschluckten Gesicht. Ein gelber Möbelwagen mit dem Schriftzug AFFHOLDER stand in einem zusammengestürzten Heuschober. Munitionskästen, ein zerborstenes MG, eine geplatzte Karbidlampe, Knäuel von Tarngehängen, alle paar Meter ein Stahlhelm. Räumpanzer schoben Spanische Reiter beiseite und zerquetschten damit Wracks aufgegebener Autos. In einem Obstgarten brannten lichterloh die Apfelbäume und ein Leiterwagen, und immer wieder sah man auf Feldern und entlang der Waldränder die wie mit Schokolade übergossenen Kadaver erschossener Pferde liegen. Als wir in meinem Viertel beim Portugiesen saßen, hatte mir Kevin wortlos ein Foto über den Tisch geschoben, das in einem Dorf bei Bayeux entstanden war. Darauf hing das mit Margeritenblüten bedruckte Kleid eines kleinen Mädchens über einem Gartenzaun, und im Bildhintergrund der Garten war verwüstet, ein einziger baumloser Krater.
«Komm schon!«, sagte ich laut zu mir selber und legte die Hände an die Dachkante des fremden Autos. Kalt waren sie und nackt, und schon waren sie auch nass.
Hör auf, immer bloß an die Toten zu denken. Denk auch mal an die, die leben, kriegst du das gar nicht mehr hin? Wo spielt denn die Musik, im Reich der Toten?
Hier spielte die Musik. Vom Meer her kam ein Motorrad, ein schweres, natürlich ohne Beiwagen, und ich duckte mich. Der Fahrer ließ die Maschine kurz aufheulen und raste vorbei, und ich kam wieder hoch und öffnete die Beifahrertür. Aber ich sah gleich, dass ich nicht finden würde, wonach ich suchte. Weder auf den Sitzen noch in den Fußräumen lag etwas, und auch das Handschuhfach hatte man ausgeräumt und offen gelassen, um Einbrecher wie mich abzuhalten. Es war keine CD da, keine von Fleetwood Mac und auch keine andere.
Ich setzte mich wieder in den Mercedes. Vor mir verlief die Chaussee schnurgerade nach Bayeux. Wahrscheinlich hatte die Straße mit ihren Bäumen und Feldern rechts und links vor siebzig Jahren ganz anders ausgesehen, war gepflastert gewesen und kurvig, ehe auch der Bessin im Zuge der Flurbereinigung in Planquadrate aufgeteilt worden war.
Wenn ich mir die Veränderungen vorstellte, die über diesen Fleck Erde hinweggegangen waren, erschien mir die Landschaft gezeichnet, und es konnte nur richtig sein, wenn die Zeichnungen kein Ende nahmen. Ich öffnete das Handschuhfach und holte alle CDs heraus, Alben, die ich lange nicht mehr gehört hatte, genauso wie solche, die ich fast täglich hörte und mit denen ich Bilder und Tage, manchmal ganze Jahre verband. Jesse hatte die Nirvana-CD im Auto vergessen, sie war die einzige, die ich behielt.
Mit den anderen ging ich hinüber, packte den Stapel ins Handschuhfach des Lancia und stand dann da im Regen und weinte. Doch das Selbstmitleid verflog, und wieder fühlte ich mich leichter. Als ich weiterfuhr, kamen mir zwei Abschleppwagen entgegen, über der Windschutzscheibe hatten sie denselben Namenszug: RENÉ FLAUBERT & FILS.
IN BÉNOUVILLE FOLGTE ICH DEN WEGWEISERN zum MEMORIAL PEGASUS und gelangte auf die Straße über den Caen-Kanal. Es war ein merkwürdiger Moment, auf die Brücke zu fahren und gleichzeitig die Pegasusbrücke auch am anderen Ufer zu sehen.
Der Parkplatz der Gedenkstätte war fast leer, nur zwei Autos mit französischem Kennzeichen standen verlassen im Regen hinter dem turnhallenartigen Dokumentationszentrum. Ich parkte etwas abseits und stellte den Wagen mit der Schnauze zum Kanalufer, damit ich beide Brücken vor Augen hatte. Den Scheibenwischer ließ ich an: Links lag eine gepflegte Grünfläche, darauf stand die vor zwanzig Jahren abgetragene und im Außenbereich des Luftlandemuseums wiedererrichtete Pegasusbrücke. Rechts von mir sah ich den Neubau, über den ich gekommen war, ein Ebenbild des Originals, nur annähernd doppelt so groß. Ab und zu rollte ein Lieferwagen über die weiße Stahlbrücke. Ein Boot oder Schiff, dessentwegen die Hebekonstruktion sich in Gang setzte, um es durchzulassen, war nicht in Sicht. Still und graublau, aufgeraut nur da, wo Böen übers Wasser fegten, lag der Caen-Kanal und floss einbetoniert und gleichgültig nach Westen dem Meer entgegen.
Eigentlich waren die alte und die neue nicht zwei Brücken, sondern Vorgänger und Nachfolger der einen Pegasusbrücke, die sie beide gleichzeitig waren — und vielleicht war es das, was sie schön erscheinen ließ. Aus der größtenteils flachen Marschlandschaft mit ihren wenigen Hügeln und vom Seewind niedrig gehaltenen Wäldchen ragte sie als weißes Doppelsymbol in die Luft. Sie war keine Hebebrücke, sondern eine Wippbrücke. Nicht um einen Drehpunkt wurde sie hochgeklappt, sondern die gesamte Konstruktion wurde auf einem Kreissegment abgerollt und der Drehpunkt horizontal verschoben. So stand es in Kevins St: art-Dossier, und da ich die Beschreibung einigermaßen kryptisch fand, so technisch und maschinenhaft wie die Brücke selbst, versuchte ich mir die Pegasusbrücke als Vehikel vorzustellen. Als Fahrzeug mit Rädern, Kufen oder Ketten würde sie einem überdimensionalen Bagger ähneln, der am Caen-Kanal stand und anstelle einer Kippschaufel eine fünfzig Meter lange, schmale weiße Platte auf und nieder wuchtete, über die man von einem zum anderen Ufer gelangte. Heute wurde der Wippmechanismus elektrisch betrieben, aber auch früher? Mein Vater hätte es gewusst. Womöglich wurde die Brücke mit einem Dieselmotor bewegt. McCoy Lee schrieb, dass er und seine Kameraden überall auf der erstürmten Brücke fertig montierte Sprengladungen fanden, doch dass die Deutschen sie aus Angst vor einem Anschlag durch die Résistance noch nicht mit Zündern versehen hatten. Vielleicht hielt sie zudem der Respekt vor den Dieseltanks davon ab.