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Sonderbar, die gleiche Brücke in zwei Ausführungen zu sehen, die alte klein und außer Funktion, dafür eine Legende, ein Denkmal, und die jüngere groß, modern, von früh bis spät in Betrieb und doch nichts weiter als eine der Kanalverbreiterung geschuldete Imitation. Nicht mal einen eigenen Namen hatte sie.

Der Regen wurde immer stärker, anstatt aufzuhören, müßig, darauf zu warten. Ich musste mich entscheiden, ob mir dieser erste Eindruck langte oder ob ich durch lauter Matsch stapfen wollte. Den Skizzenblock konnte ich im Auto lassen. Der Himmel verhieß keine Aufheiterung, und meine Stimmung war genauso normandiegrau wie oben das Wolkengeschiebe. Dazu pfiff der über plattes Land fegende Seewind. Wie um mich zum Aussteigen zu bewegen, rüttelten die Böen am Wagen, und schließlich gab ich den Widerstand auf, zog mir den Reißverschluss bis zum Kinn und stieg aus.

In St. Petersburg hatte ich einige Brücken über die Newa und die Fontanka gezeichnet, doch ging es mir dabei nicht um die Bauwerke, die Flüsse, die Stadt. Auch in einer kleinen Serie über weniger bekannte Hamburger Brücken, die ein paar Jahre zurücklag, beschäftigte mich im Grunde nur das Zusammenspiel von Licht und Linie, das Auflösen und Verschwinden des Materials in der Spiegelung und wie diese beständige Verschwendung festzuhalten wäre. Sie war es nicht. Zumindest mittels Scribtol oder Tinte bekam ich das, was mir vorschwebte, nicht in den Griff.

Brücken zeichnen, das hieß das Feste über dem Flüssigen zeichnen, Stein, Holz, Eisen über fließendem Wasser. Da hatten Menschen, denen es nicht nur, wie meinem Vater, um das architektonisch Machbare ging, das Erlebnis der Überquerung in etwas Bleibendes verwandelt. Wasser zu zeichnen war wie Brückenbauen, es hielt das fließende Erleben fest, das gespiegelte Licht, das Himmelsblau, Blinken und Schwanken. Wenn wir von Rio aus mit der Tragflächenfähre über die Guanabara-Bucht nach Niterói fuhren, sahen wir über die dreizehn Kilometer lange Stahlbetonwelle der Presidente Costa e Silva-Brücke die Autos, Laster und Busse pendeln. Der Flughafen, wo auch ich ein paar Tage zuvor angekommen war und von wo ich in ein paar Tagen wieder abreisen würde, lag unmittelbar am Ufer. Jets hatten einen weiten Bogen über die Bucht und die Brücke zu fliegen, ehe sie zur Landepiste einschwenken konnten, und jedes Mal, wenn wir auf der Fähre so einem Flieger zusahen, sagte Ira, wie schön die Brücke sei, wie schön, dass wir beide sie zusammen sehen könnten.

Auf einem meiner Streifzüge durch Manhattan stieg ich an einem kühlen Herbsttag vor ein paar Jahren in Harlem zum Marcus Garvey Park hinauf und blickte von der Aussichtsplattform nach Norden auf die Mietblockgebirge der Bronx. In der Ferne sah ich die alte Hebebrücke über den Bronx River, hellblau, scharf umrissen lag sie im New Yorker Licht und zog mich magnetisch an, rief mich geradezu, denn immer wenn sie hochgefahren wurde, um ein Schiff passieren zu lassen, das zwischen East River und Hudson verkehrte, kreischte ihr Stahl und gab einen markerschütternden Ton von sich, der noch in Harlem zu hören war.

Drei Stunden lang folgte ich dem Geräusch und lief durch Straßenschluchten und an verwaisten Schulhöfen vorbei, bis die Brücke vor mir auftauchte. Doch als ich dann am Bronx River stand, als ich das Wasser sah und das Licht und wie das Wellenspiel sich auf dem verrosteten Metall spiegelte, war mein ganzer Antrieb, sie zu zeichnen und sie festzuhalten in ihrer gellenden Unverwüstlichkeit, verschwunden. Am Ufer standen unterhalb der Brücke Bänke, darauf saßen Männer, Schwarze und Latinos, die angelten, und als hätten sie sich verabredet, hatten sie alle weiße Plastikeimer zu ihren Füßen stehen.»Sketch the bridge«, riefen sie, als sie mich mit meinem Zeichenblock sahen,»and sketch us! Come on, guy …«Es war das erste Mal, dass ich mit dem Gefühl davonrannte, durch eine Zeichnung rein gar nichts ausdrücken zu können. Vielmehr würde ich etwas rauben — aber wem? Und was?

Als ich durch den Regen hinunterlief zum Caen-Kanal, beschlich mich dasselbe Gefühl. Herbstlicher Trübsinn. Schon lange nicht mehr hatten mich Objektstudien so deprimiert. Ich hatte nicht nur keine Lust zu zeichnen, sondern sah nicht den geringsten Sinn darin, mir ein Bild von der Pegasusbrücke zu machen und das dann für St: art und Kevin Brennickes D-Day-Projekt in Kunst zu verwandeln. Vielleicht lag es am Wetter, vielleicht an der langen Fahrt und den aufwühlenden Gesprächen mit Jesse, aber eigentlich glaubte ich das nicht. Immer hatte ich versucht, mit einer Zeichnung die Achtlosigkeit vergessen zu machen, zumindest war das meine Hoffnung gewesen. Seit es Ira nicht mehr gab, hatte ich anscheinend auch mit dem Hoffen abgeschlossen. Keine Zeichnung minderte oder linderte die Achtlosigkeit, nicht meine und nicht die der anderen. War ein Bild gut, zog es die Achtung auf sich, vielleicht löste es sogar Staunen aus, Irritation, Bewunderung, meinetwegen.»Sketch us! Come on, guy …«Der Gegenstand verschwand aus dem Blick. Und schon war er vergessen.

Gedanken, die zu nichts führten. Was willst du mit deiner Zeit anfangen, wenn du aufhörst zu zeichnen, fragte ich mich. Wie wollte ich beitragen zu Kellers» Erhaltung der Freiheit und Unbescholtenheit unserer Augen«? Gar nicht. Besser bei den eigenen Augen beginnen. Lieber grüner Heinrich! Wie ich so durchs nasse Gras der Kanalböschung schlurfte, versuchte ich mir einzureden, dass ich nur damit anfangen musste — mit der Achtsamkeit Ernst machen, auf der Stelle konnte man damit beginnen! Sieh hin! Im Regen verrottete der Nachbau eines Horsa-Lastenseglers, bei dessen Anblick mein Vater vor Begeisterung den Kopf geschüttelt hätte. Da stand eine alte Stahlbrücke auf dem Gras. Eine Nacht lang entschied sie darüber, ob ein Gräuelregime aus der Welt gejagt wurde und ein Krieg zu Ende ging. Und ich brachte es nicht fertig zu staunen.

Durch ein Wäldchen, das auf einer niedrigen Anhöhe oberhalb des Brückendenkmals lag, führten Stufen zu der Grünfläche hinunter, dort kamen ein Mann mit einem kleinen Kind auf der Schulter und dahinter eine junge Frau gegangen. Ich lief ihnen entgegen, erwiderte im Vorbeigehen ihr Bonjour und stieg hinauf, bis ich oben zwischen Sommereichen innehielt und mich einer Lichtung gegenübersah, in deren Mitte mehrere Teiche lagen.

Ein Damm mit Pfad darauf führte zwischen ihnen hindurch. Ich ging um den ersten Teich herum, dann zurück auf den Damm und umrundete auch den zweiten. Einmal blieb ich stehen und lauschte, hörte den Wind durch die Eichenkronen fahren und irgendwo zwei Krähen, die abwechselnd krächzten und einander antworteten. Langsam lief ich zur Treppe zurück, im Rücken die Teiche, in die der Regen prasselte, und dachte dabei an Jesse. Gerne hätte ich mit ihm zusammen die Gegend erkundet. Bestimmt wäre ihm nicht entgangen, dass die Anhöhe, die jungen Bäume und Teiche genau McCoy Lees Beschreibung entsprachen. Ich stand mitten auf dem arschnackten Hügel, auch wenn er bloß eine niedrige und inzwischen mit Eichen bewachsene Anhöhe war. Die Dämme zwischen den Teichen hatte es damals nicht gegeben, bloß einen kleinen See, und darin war einer der sechs Horsa-Segler versunken.