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Es war Montagmorgen. Ich würde im Studio nicht vor mich hinstricheln müssen. Ich hatte ausgeschlafen, und die Wetteraussichten für die kommende Woche waren nicht schlecht. Ich würde das Meer sehen, hatte einen Auftrag, für den ich genügend Zeit hatte und der gut bezahlt wurde. Es gab eine ganze Reihe von Gründen, weshalb ich annahm, meine Traurigkeit in Schach halten zu können.

Für die Reise mit Jesse, die unsere erste gemeinsame und die erste für ihn seit dem Tod seiner Mutter war, fühlte ich mich daher gewappnet. Und auch mein Vater schien fest entschlossen, seine gute Laune bis weit in den Tag hinein zu retten. Er lächelte mir über die Hecke hinweg zu, formte aus Daumen und Zeigefingern zwei Ringe und setzte sich das imaginäre Brillengestell auf die Nase. Durch das Schiebedach hörte ich meine Mutter, sie rief ihm zu:»Wird Zeit!«

In den Pappelwipfeln hörte man die zwei Wacholderdrosseln schackern, die seit Sommer im Garten nisteten und denen meine Eltern angeblich Namen gegeben hatten, auch wenn Jesse und ich es für nicht sehr wahrscheinlich hielten, dass sie die beiden Vögel wirklich unterscheiden konnten.

Als ich den Wagen am Straßenrand geparkt hatte, kam meine Mutter ans Seitenfenster. Es fuhr hinunter, und sie steckte den Kopf herein, sodass ich kurz dachte, die herbstkühle Luft, das ist sie. Sie nickte in Richtung Hecke. Dort stand auf dem Gehsteig Jesses neuer Rucksack, schwarz und nicht sehr prall gefüllt.

«Ich hab ihm den Koffer gepackt, aber er wollte ihn nicht. Wahrscheinlich wirst du unterwegs Unterwäsche kaufen müssen. Nur damit du dich nicht wunderst.«

Mit schnellen Blicken suchte sie das Wageninnere ab. Auf der Ladefläche über den umgeklappten Rücksitzen lagen die Zeltplane, der Kocher, der Feldstecher, die russischen Gummistiefel. In meiner Sporttasche stapelten sich Bücher, obenauf Der grüne Heinrich. Den Umschlag zierte eines der beiden Selbstbildnisse von Franz Pforr, die Jacke, die Pforr trug, war grün nachkoloriert.

«Der ganze Krempel«, meinte meine Mutter zerstreut,»den braucht ihr doch gar nicht. Wo, hast du gesagt, übernachtet ihr?«

«In Belgien, in Mons.«

Sie wiederholte es und fragte, wieso ausgerechnet da.

«Einfach nur so, Mama. Es liegt auf dem Weg.«

«Du wirst es wissen. Eh ich’s vergesse … Hier hast du seine Versichertenkarte.«

Ich steckte die Chipkarte ein und sagte, sie solle sich keine Sorgen machen. Auch in der Normandie gebe es Unterwäsche.

Davon sei auszugehen.»Und genauso davon, dass du nur dieses Handwaschzeug dabeihast, von dem man sich einen Pilz holt. — Hier.«

Sie hielt mir ein paar Geldscheine ins Auto, vielleicht vierhundert Euro.

«Nimm es. Wenn der Junge es nicht braucht, gibst du’s mir wieder. Also in acht Tagen seid ihr zurück? Du rufst mich übermorgen an.«

Die Beifahrertür ging auf. Mein Vater stellte Jesses Rucksack in den Fußraum und zwinkerte mir zu. Ich roch sein Aftershave.

«Habt eine schöne Zeit, Markus. Arbeite nicht zu viel. Mach lieber Skizzen. Deine Skizzen waren immer wunderbar. Skizzen, hörst du?«

«Er hat’s gehört«, sagte von links meine Mutter.

Und mein Vater von rechts:»Das Buch hast du?«

Ich nickte.»Ist eingepackt. Ich werd’s mir ansehen, sobald wir da sind. Danke.«

Das Buch war der Bericht eines jungen Lastenseglerfliegers der Royal Air Force, der im Sommer 1944 in der Nacht zum D-Day die Erstürmung der Pegasusbrücke in der Normandie miterlebt hatte. Er hieß McCoy Lee, hatte also denselben Nachnamen wie wir gehabt. Deshalb hatte mein Vater das Buch gelesen und wollte es mir leihen.

«Gut. Aber lies es auch wirklich! Es ist spannend und voller Details. Man erfährt nicht nur viel über ihre fantastischen Gleiter, die ganz aus Holz waren, sondern auch über die Brücke, die sie erstürmen sollten. Ich geh rein und seh nach, wo der Prinzregent bleibt. Also: Bonne chance! Ich lass die Tür auf.«

«Danke, mach’s gut!«, rief ich ihm nach und sah über die Schulter, wie er auf dünnen Beinen in einer vollendet gebügelten cremefarbenen Hose davonging.

«On y va, Monsieur!«, hörte ich seinen Bass hinter den Berberitzen.

Kaum war er weg, langte meine Mutter wieder herein. Ich schrak zurück, zuckte zusammen, als sie mir aufs Herz fasste und die Geldscheine in meine Brusttasche schob, wo schon Jesses Versichertenkarte war. Mit der Faust klopfte sie darauf, aber sofort zog sie die Hand zurück und stemmte sie in die Hüfte. Ich hörte sie, streng und dabei warm:»Nun mal hopp, hopp! Alles wartet auf dich!«

Es war dieselbe Stimme, die Ira und mich aus dem Sumpf der Kindheit in den Morast der Jugend und weiter ins trockengelegte Moor der mittleren Jahre gelotst hatte.

«Hast du die Zahnbürste eingepackt? Jesse, ja oder nein?«

Der Junge ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und sank augenblicklich in sich zusammen. Er schwitzte. Er schwitzte wie nach einem Waldlauf durch bergiges Gelände und roch zugleich nach Schlaf. Ein Grollen war zu vernehmen, offenbar die Antwort auf die Zahnbürstenfrage.

Und meine Mutter verstand sie.

«Dann ist gut.«

Ich lächelte ihr zu. Sie strich mir über die Stirn.»Mach’s gut. Pass auf ihn auf, und pass auch auf dich auf — warte!«

Sie lief ums Auto und griff über die Beifahrertür nach Jesses Schläfen. Als sie seinen Kopf zu sich herangezogen hatte, hauchte sie ihm einen Kuss auf den goldenen Scheitel, dann schlug sie die Tür zu.

Damit wir uns aneinander gewöhnten, war ich vor zwei Wochen mit Jesse zu einem HipHop-Konzert und ein paar Tage später zu einem Bundesligaspiel gegangen. Das Gefühl von einem Ausflug zu zweit hatte sich unter all den Leuten jedoch weder bei mir eingestellt, noch dürfte er es gehabt haben, und so war ich erst jetzt tatsächlich zum ersten Mal, seit Ira nicht mehr lebte, mit dem Jungen allein.

3

Nach Iras Auffassung war der Zufall die Sprache der Welt. Jeder Stein und jeder Baum, jedes Tier und alle Menschen sprachen und verstanden sie. Musste nicht alles und jeder zu jedem Augenblick auf alles gefasst sein?

Sie hatte das vor langer Zeit gesagt. Später redete sie von geborgten Lebensgefühlen, allumfassender Täuschung, Sinnleere statt Erfüllung. Immer seltener sagte sie etwas, meine verschwiegene Schwester. Deine schweigsame Schwester! Schweigeminuten, — stunden, — tage. Kein Ende des Schweigens abzusehen, und doch im Kopf, ihrem wie meinem, und auch in den Köpfen unserer Eltern keine andere Vorstellung als die von einem Ende.

Wenn es stimmte, dass die Welt sich durch Zufälle äußerte, konnten meine Eltern und ich wohl behaupten, dass wir der Welt zugehört und ihren Weisungen zu folgen versucht hatten. Denn es war nichts als bloßer Zufall, dass Jesse mit mir in meinem alten Mercedes saß, um für acht Tage in die Normandie zu fahren.

Doch waren wir deshalb nicht auf alles gefasst. Als Überbleibsel einer Familie von Pragmatikern waren wir vielleicht auf alles Mögliche vorbereitet. Für Ira allerdings, die auf gar nichts vorbereitet war und nichts mehr für möglich hielt, hätte das einen elementaren Unterschied bedeutet.

Für ihren Sohn dagegen war unsere Reise bloß Schicksal.

Jesse war seit ein paar Monaten fünfzehn. Den Rucksack zwischen seinen Knien hatte ich ihm zum Geburtstag geschenkt. Früher war er eher klein gewesen, ein kleiner, lebendiger Junge mit einem, wie es immer hieß, sonnigen Gemüt. In den letzten zwei Jahren war er mächtig in die Höhe geschossen. Jetzt war er beinahe so groß wie sein Großvater und ich. Hager und schlaksig war er, dabei von zäher Ausdauer und ziemlicher Kraft. Seit geraumer Zeit hatte er eine Bannmeile für Friseurinnen um sich gezogen. Schon als er zwölf war, hatte Ira darüber geklagt, dass ihr Sohn keinen Wert auf sein Äußeres lege. Bevor sie ihrer Menschenscheu nicht mehr Herr wurde und den Halbtagsjob beim Spracheninstitut verlor, kam ab und zu eine Kollegin zu Besuch und überließ ihr Klamotten, aus denen ein größerer Sohn herausgewachsen war und die Jesse dann auftrug. Zwar wirkte er dadurch immer etwas älter, als er war, dafür stand er in der Hackordnung seiner Altersgenossen aber ziemlich weit unten.