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«Aber Ove und Margo sind bestimmt schon auf dem Rückweg. Sie wollen ja die Grus nicht stören, wenn die nach Hause kommen.«

Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich je mit einem so kleinen Mädchen ein ernstes Gespräch geführt hatte.

«Grus? Sind das Vögel?«

Sie lachte mich aus.»Natürlich sind Grus Vögel! Große. Deshalb heißen sie ja so. Oder weil sie ganz grau sind. Oder weil sie das manchmal rufen.«

«Du meinst, Grus rufen ›grus‹?«

«Ja, genau. ›Grus, grus!‹, rufen sie. Und sie tanzen. Ach ja, und sie trompeten auch.«

Kraniche tanzten, und Kraniche trompeteten auch. Aber gab es in der Normandie Kraniche, Grus-Kraniche? Auf einem Sandfeld voller schwärzlicher Kiesel tanzte mir Cat den Tanz der Grus vor. Zum Tosen der See trompetete sie. Dann streckte sie einen Arm in die Höhe, winkelte die Hand ab, machte sich ganz schmal und drehte sich. Es sah lustig aus, lustig und elegant.

«Ein Grus, ein Grus!«, rief sie.

Als Jesse noch klein gewesen war, hatte ich mich des Öfteren über ernste Dinge mit ihm unterhalten, über die Angst seiner Mutter im Dunkeln, den Tod, das Verschwinden, über Gräber, die Hölle und den Himmel. Nur war es ganz anders gewesen, fast als redete ich mit mir selbst, wäre wieder ein kleines Kind und zugleich schon erwachsen. Wie ein Selbstgespräch vor einem Zauberspiegel kam es mir manchmal vor.

Über der Steilküste waren jede Menge Vögel unterwegs, vor allem große und kleinere Möwen, aber auch Saatkrähen, die nicht aufs Wasser hinausflogen, und Tauben und ab und zu ein Entenpaar. Kraniche sah man keine, auch Grus nicht, da war sich Cat sehr sicher. Grus erkannte man schon von Weitem. Sie riefen, sie trompeteten, und sie schrieben Buchstaben in die Luft.

«Da vorne steht ein Schild«, sagte ich,»und ich glaube, da geht auch ein Weg hoch. Meinst du, wir sind schon da?«

Sie nickte, hüpfte voraus, immer bloß auf einem Gummistiefelbein.»Ich kenn mich hier aus«, rief sie.»Da oben wohnen die Grus. Und wetten, wir treffen Ove und Margo auf der Treppe?«

Genauso war es. Wie sie es vorhergesagt hatte, kamen uns auf der Treppe durch die Dünen ihr Vater und ihre große Schwester entgegen, beide in dunklen Windjacken und mit dicken Stiefeln. Cat versteckte sich und erschreckte die beiden, und während ihr Margo mit wehenden Haaren nachsetzte und sie zu fangen versuchte, kam der Mann mit dem Silberbart auf mich zu und streckte mir die Hand hin.

«Fast die schönste Stunde!«, sagte Ove Juhl und fixierte mich mit seinen hellgrauen Augen, zwei leuchtenden Punkten, die mich verunsicherten.»Nur ganz früh morgens ist es noch schöner. Wie geht es dir, hattest du eine gute Zeit?«

«Ich habe dich mal gegoogelt«, sagte er, als wir zu viert über den Strand zurückliefen. Er hatte Catinka auf den Schultern, und links neben ihm lief Margo und blieb ab und zu stehen, um einen Stein aufzuheben.»Neugier, was du so gemacht hast. Hoffe, das ist in Ordnung für dich.«

«Du hast es ja erzählt«, antwortete ich.»Meinst du, ich hätte was zu verbergen?«

Er lachte.»Ein paar schöne Tierzeichnungen von dir konnte man sehen. Einige haben mir gut gefallen, dir auch, Margi, oder?«

Margo nickte und sah mich aus den Augenwinkeln an.»Doch«, presste sie hervor,»mal ganz anders als sonst in Biobüchern.«

«Vögel habe ich kaum gezeichnet, und wenn, dann als Teil von Bäumen, um die es eigentlich ging. Bist du wegen Kranichen hier?«

Ein Ja kam aus seiner Kehle gerollt, und kurz streifte mich wieder ein hellgraues, verunsicherndes Auge.

Eine Weile hatte ich für einen vielbeschäftigten Kollegen meines Vaters Gebäudeentwürfe ausgeführt. Kurz darauf wurde er Professor und scharte Assistenten um sich, die seine Pläne für eine Hamburger Olympia-Bewerbung zu Papier bringen sollten. Doch die meisten unserer Entwürfe gefielen ihm nicht sehr, und auch mit der Bewerbung wurde es nichts. Er war es, der mich an einen Schulbuchverlag vermittelte, für den ich zwölf Jahre lang Tiere zeichnete, vor allem einheimische und vor allem kleine, die auch immer kleiner wurden. Darstellungen von Einzellern, Bakterien und Mikroben für Biologiebücher wurden schließlich mein Spezialgebiet und hielten mich finanziell über Wasser.

«Wann hast du angefangen mit dem Zeichnen?«, fragte Ove, als Gras über meine Frage nach den Kranichen gewachsen war.

«Als Junge. Mein Vater war Architekt. Wenn er zeichnete, habe ich ihm zugesehen und das gemalt, was er weggelassen hat, Bäume, Felder, Gärten, die Tiere.«

«Und die Menschen auch?«, fragte Margo.

«Ja, anfangs.«

«Klar. Einer sieht ja auch aus wie der andere.«

«Ach ja? Ist mir noch gar nicht aufgefallen«, lachte ihr Vater.

«War auch bloß ein Witz. Seh ich aus wie du?«

«Du siehst aus wie Mama, nur dass du ein Bauchnabelpiercing hast«, sagte Cat von oben.

Und Margo:»Danke, dass es dir aufgefallen ist.«

Auch Ira hatte als Kind gezeichnet, im Grunde hatte jeder gezeichnet, ich allerdings hörte nicht mehr damit auf. Ich war schon mit neun oder zehn der Kritzler und benutzte neben Stiften eine Feder und den Rapidographen, mit dem mein Vater seine Bau- und Flugzeugzeichnungen machte.

«Du bist ja Zeichner«, sagte Margo, die offenbar Vertrauen gefasst hatte.»Malt ein Zeichner auch, so wie ein Maler zeichnet?«

«Früher hab ich auch gemalt, heute nicht mehr. Ich zeichne, zumindest versuch ich’s.«

«Warum hast du mit dem Malen aufgehört?«, fragte Ove. Die Dämmerung schob sich über den Strand, es sah aus, als würde die Finsternis ins Meer fließen wollen. Oves Augen waren hell genug, um zu verraten, dass er eine Gemeinsamkeit witterte.

«Hör mal. «Er hob einen Zeigefinger.

Große Vögel zogen über uns hinweg, ich sah ihre Silhouette, hörte aber nichts.

«Die Schwingen von etwas betagteren Möwen ächzen ein bisschen«, sagte Ove.

Also erzählte ich diesem Wikinger und seinen zwei Töchtern, dass mir mit sechzehn ein Katalog mit Landschaftsstudien der Pop Art in die Hände gefallen war und dass ich mich gefühlt hatte, als wären mir neue Augen gewachsen. Ich erzählte, dass ich mich mit Staffelei und Leinwand auf einen Duvenstedter Acker gesetzt und die mit Berberitzen und Forsythien bewachsenen Knicks gemalt hatte, bis der Bauer von seinem Traktor sprang und mich vertrieb. Wie Cézanne war ich mir vorgekommen, wenn ich bei Regen unter den Bäumen stand und malte. Ich experimentierte, probierte alles an Lacken, Farben und Harzen aus, was zu Hause in der Garage stand, liebte aber besonders eine spezielle Sorte, Alkyd, die schnell trocknete, und ich verwendete dafür Rollen, Schwämme und immer gröbere Pinsel, die gröbsten, die ich kriegen konnte.

Ein paar Jahre lang machte ich mit dem Malen Ernst und versuchte, die Lasurtechniken, die ich bei den alten Niederländern bewunderte, auf meine Vorstellungen von Landschaftsmalerei zu übertragen. Doch alles, was ich malte, erschien mir zu elegisch, zu bedeutungsvoll, Farbe konnte nie bloß Farbe sein, immer musste sie Räume öffnen, Konnotationen freilegen, für ein Konzept stehen. Margo fragte, was mein Konzept sei, und ich sagte es ihr — mein Konzept war, kein Konzept zu haben. Als ich das Studium abbrach, mit Anfang zwanzig, kam ich mir wie ein Luftschiffer in einem abschmierenden Heißluftballon vor. Plötzlich war alles Ballast, bloß nichts an Bord behalten! Schluss mit der Fremdbestimmung, sagte ich mir, und wenn dich die nackte Angst packt. Wenn Angst, dann wenigstens die nackte. Farbe um Farbe verwarf ich, bis ich schließlich nur noch mit Schwarz und Weiß malte und das Grau und seine Schatten- und Lichttiefen für mich entdeckte. Irgendwann fragte mich eine Freundin, weshalb ich alles nur grau malte, und erst da fiel es mir selber auf. Waren denn für mich die Farben aus der Welt verschwunden? Ich hörte auf zu malen, weil ich mit dem Pinsel immer nur zu zeichnen versucht hatte. Vielleicht war es so, wie Gerhard Richter sagte, vielleicht konnte man noch malen, indem man durch Fotos hindurchtauchte und hinter sie gelangte. Bei Zeichnungen war es anders. Sie waren von der Ablichtungswut nahezu unbeirrt geblieben. Ich zeichnete wieder, zeichnete auf kaschiertem Karton, einer fabelhaften Glätte. Eine Zeit lang probierte ich Zirkel und Architekturschablonen aus, alles, was mein Vater in den Müll warf, Kreise, Quadrate und Dreiecke in allen Größen. Dann wieder war ich versessen darauf, meinen Bögen mit Rasierklingen zuzusetzen. So ging es weiter, und weiter. Übrig blieben nur das weiche Papier, auf dem ich schon als Fünfzehnjähriger gezeichnet hatte, ein paar Stifte, ein paar Federn und der Tuschzeichner meines Vaters, sein Rapidograph, den er wie einen Freund» mein Rapido «nannte.