«Bitter«, sagte Margo.»Aber irgendwie auch gut. Man soll sich nicht verbiegen, keiner. «Sie schien alle Scheu verloren zu haben. In ihrer dicken Windjacke mit der fellgesäumten Kapuze sah sie wie eine gegen den Frost aufgeplusterte Amsel aus. Mit weit offenen Augen blickte sie ihren Vater und mich, die beiden Erwachsenen, die neben ihr dahintrotteten, freimütig an.»Ist doch so, oder?«
«Ja«, sagte Ove nach einer Weile, und das blieb das Einzige, was ihm zu meiner Suada einfiel. Es war ein kräftiges, tiefes und warmes Ja, und ich hörte es noch, als wir schon in Viererreihe den Schlängelpfad zum Hotel hinaufstapften, Catinka voran, dann Ove, ich und schließlich Margo. Jede Zeichnung erzählt eine komplizierte Geschichte, indem sie sie extrem vereinfacht, dachte ich. Aber die Vereinfachung ist nur ein Durchgangsstadium. Sie muss viel weiter gehen, immer weiter. Nicht nur was und wie ich zeichne, auch ich selber muss immer einfacher werden. Zeichne auf immer weniger Blättern immer weniger Linien. Werde unscheinbarer, Strich für Strich. Ja genau: Zeichne dich ins Verschwinden hinein!
NACHTS WACHTE ICH AUF und blickte in mein helles Zimmer. Auf meiner Brust saß ein Tier, ein junger Steinmarder mit weißem Kehlfleck. Mit dunklen Kugelaugen sah er mich an und beschnüffelte mit der Atemhast seiner kalten Schnauze mein Kinn. Erst als ich mich bewegte, flitzte er ans Fußende, drehte sich dort, wie um seinen Schweif zu fangen, und kroch darauf mit einer schlängelnden Bewegung unter die Decke.
Da sah ich erst, dass ich nicht allein im Zimmer war. Am Tisch neben dem Heizkörper saß Maybritt Juhl.
«Schau mal, ich wollte dir was zeigen«, sagte sie und deutete auf den Tisch, auf dem bunte Figuren standen.
Ich ging zum Tisch und bückte mich, um sie besser erkennen zu können. Die Figuren bewegten sich, und ich sah, sie waren lebendig, kaum größer als Spielsteine zwar, aber in Hosen und Jacken und mit Schuhen an den Füßen.
«Wonach suchen die?«, fragte ich, amüsiert von dem Zirkus aus kleinen Leuten, der da bei mir gastierte. Es gab Frauen, Männer, sogar Kinder.
«Erkennst du sie?«, fragte Maybritt.
Ja!
Um die Struktur des pflegeelterlichen Netzwerks zu verdeutlichen, in das Jesse eingebettet war, hatte der Berater im Jugendamt Spielfiguren zu Hilfe genommen und sie so auf dem Tisch angeordnet, dass zwei für die Großeltern, zwei für die Pflegeeltern und andere für die Pflegeelternberater, den gesetzlichen Vormund und weitere Menschen standen, die in Jesses Leben eine Rolle spielten, auch wenn sie kaum in Erscheinung traten — so der israelische Vater, ein Arzt in Südengland, zu dem aber kein Kontakt bestand, oder der anwesende Onkel, laut Akte ein Künstler.
Meine Eltern, Lewandowskis, die anwesenden Berater und ich hatten das Modell bestaunt. Dass etwas fehlte, bemerkte keiner. Nur Jesse sah gleich, als er hereingerufen wurde, dass für ihn, um den es doch ging, keine Figur auf dem Tisch stand. Ihn hatten wir alle vergessen.
«Guck«, sagte Maybritt,»da bist du«— und sie zeigte auf ein Männlein am Rand, das alles, was im Zimmer vor sich ging, zu beobachten schien. Mit einem Mal erkannte ich auch meine Eltern: Meine Mutter trug das Kostüm, das sie anzog, wenn mein Vater sie zum Essen ausführte. Und ich sah Karen Lewandowski, ihre langen roten Haare, die überall, wo sie stand oder ging, auf dem Boden lagen.
«Können wir nicht von unten was zu essen für sie holen?«, fragte ich Maybritt, die aber nur den Kopf senkte.
«Was denn? Kekssplitter?«, lachte sie.
Ihre Augen waren nicht Maybritts, sie waren grün wie Iras, wie Jesses und die meiner Mutter, und als ich aufstand, sah ich meinen Schatten darin.
Ich stellte mich ans Fenster. Noch ganz dunkel war es draußen, und man hörte den Wind und das Meeresbranden. Aber an der Wand hing wieder das Bild von der Überschwemmung bei Port-Marly, und daran erkannte ich, wo ich war.
Ich träumte, nur war ich nicht ich selbst, sondern war der grüne Heinrich geworden und erlebte dessen erstes Erwachen im Heimatdorf seiner Mutter.
«Kekssplitter«, sagte ich.»Das hat meine Schwester immer gesagt.«
Und die Frau mit den grünen Augen sagte, ich solle da stehen bleiben, und stand dann selber auf.»Ich zeige dir, was jetzt passiert.«
«Du bist gar nicht Maybritt.«
«Nein?«
Sie zog die Bettdecke beiseite und hob den Marder hoch, der auf ihrem Arm gähnte und sich streckte. Dann wandte sie sich der Tischplatte zu und hielt das Tier fest, bis es sprang.
«Na los! Schieß ab, du Rakete!«, sagte sie, und noch während der Marder fauchend und mit buschigem Schweif mitten im Sprung war, wusste ich, dass er so wenig ein Marder war, wie diese Frau lebendig sein konnte.
Als ich die Augen aufmachte, war weit und breit kein Marder zu sehen. Auch Stuhl und Tisch waren leer, und darüber, an der Wand, hing das Foto von den Zwillingen, ein Jugendbildnis, wie ich plötzlich dachte, der Schwestern, denen das L’Angleterre gehörte und deren Sohn Schrott- und Gebrauchtwagenhändler war und René Flaubert hieß.
Auf dem Handy war es kurz vor vier. Kopfschüttelnd spähte ich durch die Scheiben in die Schwärze der Nacht über dem Meer. Ich hörte den Sturm, und ich wurde ruhiger und merkte, wie ich nach und nach in die wirkliche Zeit und mein wirkliches Zimmer zurückfand. Irgendwann fiel mir auf, dass die Scheiben ganz trocken waren, dass es im Lauf der Nacht aufgehört haben musste zu regnen, deshalb öffnete ich das Fenster und stellte mich in den hereintosenden Wind.
Im Flur war es dunkel, aber nicht vollständig. Durch die angelehnte Tür von Niels’ Zimmer fiel ein Lichtstreif, und auch leise Stimmen und ab und zu ein paar Gitarrenklänge drangen heraus, ein gutes Zeichen, ein Zeichen dafür, dass die Jungen nicht sich selbst überlassen waren. Niels’ ältere Schwester hatte ein Auge auf sie.
Wachgerüttelt vom Wind tappte ich durch den Korridor und fand wider Erwarten sofort mehrere passende Zimmer. Kein einziges war abgeschlossen. Alle waren ungeheizt, kalt, finster und rochen muffig oder schimmelig. Nirgends stand ein Bett oder lag eine Matratze, viele waren sogar völlig unmöbliert, und zumindest auf der dem Meer abgewandten Flurseite wirkte jeder Raum wie seit Jahren verwaist.
Ich stand in der Tür von so einem Zimmer, als vom Fenster her ein Tuten kam, dann ein Knattern. Ein Nebelhorn draußen auf dem Meer, dachte ich, aber nicht sehr weit entfernt, ein Frachter in Küstennähe, dessen Lastbaumtakelung vielleicht im Wind knattert. Im Dunkeln blickte ich mich um und lauschte. Sobald die Rede auf den Ärmelkanal kam, sagte mein Vater, die Meerenge zwischen Dover und Calais sei heute zwar die meistbefahrene Wasserstraße der Welt, das ändere aber nichts daran, dass Blériot sie als Erster überflogen habe, 1909 mit seiner Onze, und immer meinte er erwähnen zu müssen, dass Louis Blériot nur selten höher als achtzig Meter über dem Wasser dahingeknattert sei. Das Horn klang dumpf, als es erneut tutete, dunkel, schwarz und verlassen hörte es sich an.
«Hier bist du richtig«, sagte ich laut zu mir selbst. Ein dunkles Zimmer mit Blick auf das nächtliche Meer war eine gute Unterkunft für mich und meinen Schatten. Als das Signal verklungen und der Raum wieder still war, machte ich kehrt und ließ die Tür offen, um Tisch und Stuhl aus meinem Zimmer zu holen.