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Der Tisch war zu schwer. Gut verleimt und mehrfach weiß überlackiert, ließ er sich auch nicht in Teile zerlegen. Ich griff mir den Geisterstuhl und trug ihn in das fremde Zimmer. Dann ging ich hinüber zu den Jungs und klopfte.

Die Gitarre verstummte. Ich hörte Niels’ Stimme:»Ja? Herein, herein, wenn es keine achtjährige Schwester ist.«

Ich drückte die Tür einen Spaltbreit auf. Es war ein Doppelzimmer mit Balkontür und breitem Fenster, darunter ein Tisch wie meiner. Ein aufgeklappter Laptop mit blauem Bildschirm und eine alte Schreibtischlampe standen darauf und spendeten das einzige Licht. Es brauchte einige Zeit, bis ich jemanden entdeckte.

Carlo erhob sich vor dem Bett und gähnte, bevor er zur Tür kam und schlaftrunken vor mir stehen blieb. Jesse sah ich nicht, und von Niels nur den Kopf. Er saß zwischen Bett und Fenster auf dem Fußboden, hielt die Gitarre in Händen und lächelte mich an, freundlich, selig. Entweder war er ziemlich betrunken oder bekifft oder beides. Ich sah nirgends eine Flasche, und auch nach Gras roch es nicht, aber es gab ja den Balkon.

«Ich suche Jesse. Ich brauch ihn mal kurz. Weißt du, wo er ist?«

Niels kam hoch auf die Knie, sagte laut» Nachtschicht!«und hob noch vorsichtiger die Bettdecke an als die Frau in meinem Traum, die ausgesehen hatte wie seine Mutter.

«He, Alter, Marky Mark möchte was von dir, komm raus, du Molch«, sagte er belustigt und ohne sich Mühe zu geben, sein Lallen zu unterdrücken.

«Deine Mutter meint, du hast ein Computerspiel, in dem die Pegasusbrücke vorkommt. «Ich zeigte auf den meerblau leuchtenden Laptop.

«Keine Ahnung. «Niels grinste zu der obligatorischen Antwort, die ihm Zeit zum Nachdenken verschaffte.»Kann schon sein. Wie soll die denn aussehen?«

Aus den weißen Untiefen des Bettes tauchte Jesses Mähne auf. Mittlerweile stand ich vor dem Bett und der Riesenschnauzer in der Tür, respektvoll hatten Carlo und ich Plätze getauscht.

«Weiß, aus Eisen oder Stahl«, sagte ich zu Niels,»und an einer Uferseite ist ein riesiges halbes Zahnrad. 1944 haben die Briten sie von den Deutschen zurückerobert.«

«Ach die«, lachte Niels.»Wo sie mit Gleitern runter sind und der eine dabei in den See stürzt — die Brücke von Bénouville. Hab ich zwanzigmal eingenommen, aber zigmal bin ich auch draufgegangen. Ist schon älter, das Spiel. Hab es nicht mit.«

Kein Du, kein Sie. Sogar in ramponiertem Zustand mitten in der Nacht war Niels Juhl vorsichtig und wachsam. Ich fragte nach dem Namen des Spiels, und er sagte ihn mir, Angels of Mercy. Ich dankte ihm, und er gab dem Arm, der unter der Bettdecke hervorsah, einen Klaps.

Jesse blinzelte mit einem Auge her, das andere wollte partout nicht aufgehen. Zerrupft, abgekämpft, mit den langen Haaren wie ein junges Mädchen nach einer Schulstunde Bodenturnen sah er aus, und es tat mir schon leid, ihn gestört und aufgescheucht zu haben. Aber ich war auch ein bisschen neidisch auf ihn und die Zweisamkeit, Dreisamkeit mitten in der Nacht in diesem Zimmer. Außerden wollte ich den Traum abschütteln, mit jemandem aus Fleisch und Blut wenigstens kurz ein paar Worte wechseln.

Auf zwei Stühlen, einem Ohrensessel, dem Teppich überall Sachen, Klamotten, Besteck, Spielehüllen, Discs, Cola-Dosen, drei halb leer gelöffelte Müslischalen. Ich überlegte, wie ich ihn dazu bewegen sollte, dass er aufstand und mitkam. Doch zu meiner Überraschung leistete er keinerlei Widerstand, zog sich T-Shirt und Trainingshose über und folgte mir wortlos in den Flur.

Ich nahm mir vor, ihn erst tagsüber zu fragen, ob Niels und er tranken oder sich sonst wie auf die Rucksackreise ins Land der Zugedröhnten begaben, und weil ich nicht wollte, dass er mir etwas vormachte, wollte auch ich ihm keine Märchen erzählen. In meinem Zimmer lehnte er sich an die Wand und schlotterte. Er war fast so weiß wie die Tapete, als er die Augen schloss und tief die kalte Luft einatmete.

«Komm, fass mit an«, sagte ich.»Der fliegt raus.«

Jesse fragte nicht weiter nach, er tat, als wäre es das Natürlichste von der Welt, morgens um vier in einem Hotel Eichentische von einem Zimmer ins andere zu tragen. Die Tür war schmal. Wir mussten den Tisch durch den Rahmen manövrieren, mit den Beinen voran. Im Korridor drehte Jesse sich um, packte das Trumm und ging voraus.

Als der Tisch in dem dunklen Zimmer stand, dankte ich ihm, und er sagte bloß:»Ist ok.«

«Du hättest mir sagen können, wieso du unbedingt hierher wolltest«, meinte ich, als er mit nackten, nervösen Füßen schon in der Tür stand.»Geh zurück zu ihr. Schlaft gut. Bestimmt wärmt sie dich.«

Er lächelte und hob kurz den Arm zum Gutenachtgruß einer zitternden Hand, bevor er flüsternd nach Carlo rief und die beiden gemeinsam davontrotteten.

ICH SCHLIEF BIS MITTAG, ohne weiter schlecht zu träumen. Wieder weckte mich das Geschrei in der Luft, doch kam mir das Krächzen und Schackern der Elstern und Krähen diesmal fast ebenso laut vor wie das Kreischen der hin und her schwirrenden Seemöwen.

Das Handy blinkte. Drei neue Nachrichten — die erste von Saskia. Meine frühere Frau fragte, ob ich gut angekommen sei und ob eine junge Freundin von ihr für ein paar Tage in meinem Studio wohnen könne.

In der zweiten schrieb Dr. med. dent. Birgit Fuerstner, dass meine Kafka-Zeichnungen ihre Patienten begeisterten. Sie habe übrigens eine Kollegin in England gebeten, nach diesem Mati zu forschen. Leider vergeblich.

Die dritte stammte von Kevin Brennicke und bestand aus einer einzigen Frage:»Wie läuft es, alter Krieger?«

Ich ging duschen, legte mich aber wieder hin, als ich von unten Maybritts und Cats Stimmen hörte. Bei gutem Wetter würden Ove und sie die restlichen Mauerrisse ausbessern, hatte die Frau mit dem Gesicht aus meinem Traum beim Abendessen gesagt und dabei mich angesehen und einen russischen Pfannkuchen zerrissen. Später würden sie zum Einkaufen nach Ouistreham oder Bayeux fahren. Ein bretonisches Lippfischragout schwebte Maybritt vor, vielleicht bekam man fangfrischen Klippenbarsch. Wollte ich mit, etwas durch die Stadt laufen, mich ein bisschen unter die Leute mischen?

Die Vorstellung, Maybritt Juhl gegenüberzutreten und dabei so zu tun, als wäre nichts geschehen — auch wenn das der Wahrheit entsprach — , verursachte mir ein flaues Gefühl im Magen. Ich nahm mir vor, lieber zu warten, bis sie mit Catinka nach draußen zu ihrem Mann ging. Einmal hastig und dann noch mal langsam, Satz für Satz, las ich die Seiten, auf denen Keller vom ersten Erwachen Heinrich Lees im Haus seines Oheims schrieb, las jede Beschreibung von dem zahmen Marder, der dem grünen Heinrich erst auf der Brust hockte und dann im Zimmer umhertobte, sehr genau und rätselte dabei doch nur erneut, woher der Zauber kam, der die ganze Szene in ein so unvergessliches Licht tauchte.

Im Bett liegend, das Buch auf der Brust, schloss ich die Augen, versuchte mich zu konzentrieren und tat mein Bestes, um dem kreischend über mich hinfliegenden Tag eine Struktur zu geben. Ich sah Birgit Fuerstners Patienten vor mir. Begeistert betrachteten sie meine Kafka-Zeichnungen, um das Sirren des Bohrers in irgendeinem weit aufgesperrten Mund zu verdrängen.

Etwas Entscheidendes hatte sich verändert. Gespräche führten zu nichts mehr. Darum gab es kaum noch welche. Die paar Menschen, mit denen ich mich hatte austauschen können, lebten entweder nicht mehr oder waren nicht mehr erreichbar — was auf dasselbe hinauslief. Und die, mit denen ich über SMS noch in Kontakt stand, kannten mich nicht oder nur kaum und hatten nur wenig Interesse daran, einem wie mir zu helfen. Denn sie wussten, sehr genau sogar, einer wie ich sprang ihnen ebenso wenig zur Seite, sobald sie in einer ähnlichen Situation waren.