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Fäden, verwirrt und verheddert, Fäden voll gordischer Knoten, die man durchhauen musste, wollte man auch weiterhin den Anschein wahren, dass man in der Lage war, sich selbsttätig freizukämpfen und die eigene Haut zu retten.

Ein ganzes Alphabet brauchte man, um durchzunummerieren, was Tag für Tag zu erledigen war. Ich musste a) mit meiner Mutter telefonieren, um sie über Jesses Verfassung auf dem Laufenden zu halten. Allerdings konnte ich ihr schlecht die Wahrheit erzählen, solange mir die Verfassung ihres Enkels selber ein Rätsel war. Ich hatte daher b) mit dem Jungen zu reden, über Margo, aber auch c) seine Freundschaft mit Niels, die ich seit vergangener Nacht in einem etwas anderen Licht sah. Über d) Rauschmittel musste ich mit Jesse sprechen, jedoch ebenso über e) ganz pragmatische Dinge, die mit dem Mädchen zusammenhingen. War ihm sein Alter klar? Dachten die zwei an Verhütung? Schlief er denn mit Margo, mit Margi?

Vor diesem Hintergrund kamen mir die Angelegenheiten, die mich selber betrafen, vergleichsweise simpel vor. Ich musste f) Maybritt Juhl als das sehen, was sie war, eine lebendige, verheiratete Frau, Mutter dreier Kinder und nicht etwa ein Gespenst, das nachts in mein Zimmer kam. Ich hatte ihr mein Wort gegeben, dass ich ihrem Mann bei Reparaturen am Haus zur Hand ging, und daran g) würde ich mich halten. Gleich nach dem h) Frühstück würde ich Ove suchen gehen, ihren silberbärtigen Gatten, und i) Risse mit ihm ausbessern, j) kaputte Fensterscheiben mit ihm herausbrechen, k) neue mit ihm einsetzen und l) Löcher mit ihm flicken, als wären es nicht bloß Löcher im Dach eines Strandhotels, dessen Tage gezählt waren, sondern die Löcher im eigenen durchlöcherten Leben.

Es gab jede Menge zu tun an diesem Tag, der nur scheinbar ein schon halb verschlafener, beliebiger Tag war. Um ihr kleines Herz nicht zu enttäuschen, musste ich m) mit Catinka über die Grus sprechen und sie bitten, mir noch einmal deren Trompetentanz vorzuführen, musste n) endlich anfangen, Nachrichten von Pegasus zu lesen, das Buch, das mein Vater mir geliehen hatte, und o) mir Gedanken über diesen McCoy Lee machen wie auch p) darüber, ob Erlebnisse eines jungen britischen Fliegers während der Invasion in meine Zeichnungen von der Pegasusbrücke einfließen sollten. Wollte ich q) die Brücken denn überhaupt noch zeichnen, r) nach Souleuvre fahren, zum Gui, zur Douve? War dem nämlich nicht so, dann s) hatte ich mir das einzugestehen, musste mich t) nach Gründen fragen oder mir u) wenigstens Ausreden zurechtlegen. Dann würde ich v) mit Kevin reden müssen, könnte w) Zeichenblock und Stifte wegwerfen, x) Saskia bitten, dass sie mein Studio kündigte oder y) es am besten gleich weitervermietete an ihre Freundin, und musste dann nur noch z) Carlo den Riesenschnauzer befragen, wie man mit dem Verschwinden Ernst machte.

Auf dem Küchentisch standen vier saubere Frühstücksgedecke. Jesse, seine Freundin und deren Bruder schienen noch im Gebirge der Träume unterwegs zu sein.

Ein Zeichenblatt, postkartengroß, lehnte an meiner Kaffeeschale vom vorigen Morgen, aber auch so hätte ich unschwer erkannt, für wen das Bild bestimmt war.

Es zeigte einen Grus. Der große, schöne Vogel hatte weißgraues Gefieder, dunkle Schwingenspitzen und einen haubenartigen roten Federkamm. Er war sehr schmal, kaum breiter als sein langer Säbelschnabel, stand auf einem Bein und sah seinen Betrachter, sah mich mit so wachen wie in sich ruhenden Augen an.

Ich trank Milchkaffee, aß Schinken und ein Ei. Während ich frühstückte, wanderte mein Blick zu der Tuschzeichnung zurück. Der Kranich stand im Sand einer grasbewachsenen Düne. Blassblau, als dünnen Streifen, hatte Catinka im Hintergrund das Meer gemalt, den hingetuschten Ärmelkanal. Und in der Luft, weit droben über dem Vogel, sah man das, wovon sie erzählt und was ich ihr nicht geglaubt hatte: Ein riesiger Buchstabe, ein M, die Initiale meines Vornamens, flog dort am Himmel. Das Dünengras war dottergelb, die Wolken grün, und die Sonne war rot wie die rote Haube des Grus.

Mittags konnte ich mich endlich dazu aufraffen, in Wellingsbüttel anzurufen. Mit einem Mal schien im Hotelgarten die Sonne, nur rot war sie nicht, sondern gelb und silbrig, sogar die Borke der Obstbäume schimmerte davon. Vom Licht ließ ich mich ins Freie locken, obwohl ich nicht mal eine Strickjacke anhatte. Ich hätte auch gar nicht sagen können, wo die Jacke war, tief unten in meiner Sporttasche wahrscheinlich, unter Büchern, Stiefeln und Gordian Rogallas Zweimannzelt, in dem für drei nie genug Platz gewesen war. Meine Sporttasche aber würde ich nie wiedersehen, und mit ihr hatte auch meine Strickjacke die Reise ins Endlose angetreten.

Ich steckte mir eine Zigarette an, fuhr mir durchs Haar und ging hinaus. Die kühle Luft war wundervoll. Fröstelnd stellte ich mich in einen Fleck Sonne, besah mir den verfilzten Rasen, der zum Meer hin leicht abfiel, bis die Mauer ihm Einhalt gebot, wartete, dass meine Mutter an den Apparat ging, und sah meinen Vater vor mir, der das Moos der Hamburger Regensommer dazu nutzte, um sich vom Gartenverächter zu einem versierten, wenn auch verbissenen Vertikutierer zu entwickeln.

«Markus. Wie geht’s dem Jungen?«, lautete ihre Begrüßung.

«Es geht uns sehr gut«, sagte ich,»bestens. Und euch? Wie geht’s Papa?«

«Hier ist alles beim Alten. Schmuddelwetter. Wir haben überlegt, für eine Woche zu den DeWitts zu fahren, aber leider sind sie mal wieder in Griechenland.«

«Pech. Pech für DeWitts«, sagte ich schnell.»Weshalb fahrt ihr nicht trotzdem? Der Bodensee — «

«Der Bodensee ist der Bodensee. Wir wollen bitte nicht über die DeWitts streiten«, unterbrach sie mich.»Du hältst sie für Ignoranten, aber das sind sie nicht. Erzähl lieber … hast du wirklich das Gefühl, dass es Jesse gutgeht? Was macht er so?«

Ich antwortete nicht.

«Markus?«

Wie deprimierend. Nach kaum fünf Sätzen bekam ich Lust, mich mit einer Erfindung dagegen zu wehren, dass sie mich in die Defensive trieb. Nervös, wie auf der Suche nach einem Fluchtweg, stapfte ich auf dem bettlakengroßen Sonnenfleck umher.

«Hörst du mich?«

Eine Erfindung war passiver Widerstand, eine Schonhaltung, die vor Schmerz bewahren sollte, doch das nicht wirklich tat.

«Er hat die halbe Nacht lang getrunken, vielleicht auch Haschisch geraucht oder Tabletten geschluckt. Allerdings nicht allein, sondern mit Niels, den du ganz richtig eingeschätzt hast, und mit seiner Freundin, Niels’ älterer Schwester Margo, ihretwegen ist er eigentlich hier. Er schläft noch, alle drei schlafen sie noch ihren Rausch aus«— hätte ich sagen können und vielleicht sogar sagen müssen.

Stattdessen sagte ich:»Er hilft.«

Und meine Mutter:»Jesse? Wobei?«

«Das Hotel ist alt, älter als wir dachten. Es war seit Jahren keiner hier. An ein paar Stellen ist das Dach undicht, und zwei, drei Fenster sind auch kaputt. Juhls halten das Haus sauber, heizen, kümmern sich um den Garten und kleinere Reparaturen, und die Jungs und die ältere Tochter helfen und verdienen sich damit ein bisschen was.«

«Du willst mir aber nicht sagen, dass der Junge auf dem Dach dieses halb verfallenen Hotels herumklettert.«

«Er klettert nicht, sondern hilft ausbessern. Höchstens steht er mal auf der Leiter. Eine alte Mauer umgibt das Grundstück. Die hat Risse, und Jesse verputzt sie. Er macht es gut.«

Ich schnippte die Zigarettenkippe über die Mauer, und sie flog hinein ins Herbsthimmelblau wie eine späte Hummel.

«Ich will dir glauben, dass du ihn nicht in Gefahr bringst«, sagte meine Mutter, und ich bedankte mich, schüttelte den Kopf und trat aus dem verblassenden Sonnenfleck.

«Es geht alles so schnell vorbei«, sagte sie.»Stell dir vor: Der kleine Hund von nebenan ist gestorben, schon kurz nachdem ihr weg wart. Plözlich war es ganz still.«

Armer kleiner wütender Schisser, dachte ich. Wer soll jetzt die Terrassenmarkise ankläffen? Ich fragte, woran der Hund gestorben sei, aber meine Mutter wusste es nicht. Sie hatte nur davon gehört. Mit diesen Menschen sei ja leider nicht zu reden.