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Als die Chesterfields-Schachtel leer war, meine vorletzte, drehte ich um. Rasch und mächtig kam jetzt die Flut. Höher und höher musste ich auf den Sand fliehen, um nicht nasse Schuhe zu bekommen. Blickte ich zurück, schien der helle, von schwarzen Felsen durchbrochene Streifen ein Gemälde, in das ich hätte hineingehen können. Alfred Sisley hatte zuletzt solche Bilder gemalt, rätselhaft, von immer demselben verlassenen Felsenstrand irgendwo an der walisischen Küste. Ein schöner Todesstreifen! Vor siebzig Jahren, mein Vater war noch jünger als Cat, hatte die Wehrmacht diesen einladenden Sandburgenbaugrund in vermintes Gelände verwandelt. Unterhalb des Steilhangs und quer durch die Dünen verlief auf Höhe der Flutlinie der Stacheldrahtverhau. Alle paar Meter standen Belgische Tore und Spanische Reiter. Schwarze Tarnnetze verhüllten Stahl und Beton. Sie ließen die Panzersperren von der See aus wie schimmernde, vom Salzwasser beleckte Felsen wirken.

Auf dem Schlängelpfad hinauf zum L’Angleterre glaubte ich plötzlich zu verstehen, warum sich alles in mir sträubte, sobald ich nur daran dachte, eine von Kevins Brücken zu zeichnen. Allen Ernstes hatte ich mir vorgenommen, das Vergangene gegenwärtig und das Tote lebendig werden zu lassen. Eine Zeichnung kann das, hatte ich immer geglaubt, sie kann es, und daran glaubst du, und daran halte fest. Aber jetzt musste ich mir sagen: Nein, unmöglich. Eine Pegasusbrücke gibt es nicht mehr. Man hat sie ersetzt durch eine Imitation, sie ist kein Palimpsest, sondern eine Ruine. Deshalb kann ich nur versuchen, sie so zu sehen, wie sie ist. Und deshalb muss ich besser zeichnen, als ich es selber für möglich halte, und meinen Kummer dazu nutzen, um mir vor Augen zu führen, woher er kommt. Vergiss nicht, wovon Ira bis zum Schluss überzeugt war und woran auch du glaubst: Der Tag ist nur die halbe Wahrheit. Solang ich das im Kopf behalte, fließt es auch in meine Arbeit ein, dachte ich auf dem Sandweg durch das lichtüberströmte Gras. Denn eins dürfte sogar dir inzwischen klar sein, Markus Lee: Fortschritte machst du nur noch beim Zeichnen.

Mit Jesse, der damals vielleicht vier war, hatten Ira und ich in einem Spätsommer einen Ausflug zur Bunthäuser Spitze im Süden von Hamburg gemacht. Es war ein besonderer Ort, nicht nur, weil sich dort der Strom in Norderelbe und Süderelbe teilte, sondern weil es trotz der spürbaren Nähe des Hafens und seiner sich ins Land fressenden Ausläufer ganz still, fast verwunschen an der Bunthäuser Spitze war. Flatterulmen und Flussgeißblatt wuchsen auf dem schmalen Binnendelta zwischen den Elbarmen. Mückenwolken schwebten auf und nieder in der weiten, nach Schlick und verblühten Geestkräutern duftenden Luft. Und an der eigentlichen Landspitze, da stand ein Leuchtturm, nicht höher als ein junger Baum und lange außer Betrieb. Bei seinem Anblick quiekte Jesse vor Entzücken, ehe er von seinem Bobbycar sprang, um als Erster bei der Treppe zu sein, die zu dem rot-weiß geringelten Türmchen hinaufführte.

Es war einer der letzten halbwegs unbeschwerten Ausflüge aufs Land, die meine Schwester noch auf sich nahm, um gemeinsam mit dem Jungen etwas zu erleben. Wenn ich mich nicht irrte, war es außerdem der einzige Ausflug, zu dem Kevin Brennicke mitkam. Sehr lange pflegten er und ich nach dem Nana-Fiasko noch nicht wieder Umgang miteinander, doch in meiner Erinnerung sprachen wir an der Bunthäuser Spitze auch über unsere gemeinsame Liebe zu Zeichnungen sowie über die Möglichkeiten, die ein aufstrebendes Magazin wie St: art einem wenig umtriebigen Künstler wie mir bieten konnte. Der Spaziergang zum Leuchtfeuer Bunthaus — vielleicht der Beginn unserer inzwischen elfjährigen Zusammenarbeit, sehr wahrscheinlich sogar. Vielleicht war dieser Nachmittag an der Elbe sogar etwas wie eine Aussöhnung, das einvernehmliche Schließen eines Kapitels, das unser beider Leben verband, weil es von einer Frau handelte, die kurz meine Freundin gewesen war, dann aber feststellte, dass sie ihn liebte. Von einem Freund erwartete ich nicht viel. Er sollte mir auf Augenhöhe begegnen. Er sollte sein Bestes tun, um mir dasselbe zu ermöglichen. Respekt, ja, und noch mehr. Ich bewunderte Kevin, manchmal wünschte ich mir sogar, wie er zu sein. Doch ich wollte nicht wieder und wieder hören, was ich alles versäumte.»Markus, Alter«, sagte er am Leuchtturm zu mir,»mach was aus deinem Talent. Du musst was unternehmen.«

Aber vielleicht war etwas ganz anderes der Grund dafür, weshalb ich Kevin nie wieder so ins Herz schloss wie zu der Zeit, als Gordy, er und ich Freunde gewesen waren. Ich hatte die Pforte zum Hotelgarten fast erreicht, als ich mich nach langer Zeit wieder mal fragte, wieso Ira ausgerechnet ihn so gemocht hatte. Kevin Brennicke war ein Energiebündel, ein Macher, ein Familienmensch, er war alles, was sie so wenig war wie ich. Ich erinnerte mich, dass in der Nähe des Leuchtturms ein leckgeschlagenes Ruderboot an Land lag und dass Kevin, sobald er sah, wie es hieß, nämlich Plessen oder Klessen, zur Wasserlinie hinunterstürmte und dabei Jesse zurief, er solle mitkommen.»Komm mit, kleiner Mann! Das gucken wir uns an!«, rief er, und Ira sagte in die fragenden Augen ihres Sohnes hinein nur:»Na los. Lauf.«

Sie klang müde und bekümmert, aber auch erleichtert, fast ein bisschen amüsiert von ihrer Erleichterung, so wie oft damals. Und ich sah noch vor mir, wie sie den Gürtel des Trenchcoats, den Kevin ihr überlassen hatte, damit sie Jesse auf seinem Bobbycar ziehen konnte, aus der Hand sinken ließ, um sich eine Zigarette anzustecken.

Kevin war in Wahrheit ein großer Junge, ein von allem fasziniertes, auf alles Mögliche neugieriges Kind, für das jedes Problem eine Herausforderung war und die Lösung allein vom richtigen Werkzeug abhing. Plessen oder Klessen: Immer noch hatte er wie früher sein Schweizer Taschenmesser, damit kratzte er unter Jesses staunenden Blicken den ersten und letzten Buchstaben des Bootsnamens vom Bug, nahm einen Kohlestein und verwandelte damit das IESSE in JESSE. Ira lachte — sie konnte sich so freuen — , ihr Sohn tanzte, und ich fragte mich, wann Kevin wohl diese Idee gekommen war.

Durch den Hotelhof klang Gehämmer, das von der Mauer widerhallte, doch war niemand zu sehen, und der zerbeulte Volvo stand noch immer im Carport. Ich ging zwischen den Autos hindurch runter in die Küche, sah, dass auch da alles unverändert war, und nahm mir ein Wasserglas. Ich schenkte es zur Hälfte voll Calvados, füllte es mit kaltem Perrier auf und trank. Ich spülte mein Frühstücksgeschirr ab und merkte dabei, wie der Brand aus Äpfeln und Birnen, es war ein mehr als sechs Jahre alter Napoléon, zu wirken begann. Ich mixte mir noch ein zweites Glas, diesmal mit weniger Wasser, und wartete die Wirkung ab. Ich fühlte mich leicht und aus meinem Kummer entlassen. Ich glaube nicht, dass ich mit dir einen trinken würde, wenn ich dich nicht seit siebenundvierzig Jahren ertragen müsste, dachte ich. Und mit diesem Gedanken nahm ich Catinkas Zeichnung vom Tisch und stieg in den zweiten Stock hinauf. Es kam mir vor, als würde der Weg durch die Dünen und über den Steilhang unvermindert weitergehen bis zu meiner Tür am Ende des Flurs voller im Sonnenlicht schwimmender Bilder.

Auf den Zimmerboden legte ich neben meinen Zeichenblock Cats Star Wars-Karte. Mit dem alten Rapido meines Vaters zeichnete ich eine Linie, aus der Padmé Amidala wurde. Unten auf das Blatt schrieb ich:»Große Jedi-Senatorin Catinka — viel Spaß mit dem Stift! Er ist mächtig wie ein Laserschwert. «Dann zog ich mir eine alte Jeans an — ihr letzter Auftritt — , schlüpfte in den Anorak und wandte mich zur Tür, um in der Küche die Zeichnung und den Rapidographen auf den Platz der Kleinen zu legen. Aber ich drehte mich noch mal um, hörte im Hof das Hämmern und sah mein leeres Bett. Ich spürte den Körper der Frau, die dort lag und atmete, und schloss die Augen. Ich spürte, wie Ira leicht und ruhig atmete, und so ging ich und ließ die Tür offen.