Carlo kam mir entgegengetrabt, als ich im Hof um die Ecke bog. Sobald er mich sah, freute er sich, drängte sich an mein Bein und presste mir Stirn und Schnauze in die flache Hand, damit ich ihn klopfte und kraulte.
«Na mein Freund, immer noch da?«
«Komm und sieh dir an, wie weit wir schon sind!«, rief Maybritt. In Jogginghose, dickem Pullover und mit Tuch im Haar stand sie in einem Sonnenviereck zwischen Mauer und Hauswand, rauchte eine von ihren Selbstgedrehten und winkte mich mit fächelnden Handbewegungen zu sich.
«Guck«, lachte sie, als ich neben ihr stand, und zeigte mit zwei Fingern und der Zigarette nach oben, weit nach oben, die Mauer, die Hauswand hinauf bis zum zweiten Stock.»Fast fertig. Wer hätte das gedacht?«Sie strahlte, und sie legte mir den Arm um die Schultern.»Ich freue mich so!«
Auf der Mauer standen Margo und die Aluleiter, die sie festhielt und die an der fleckig gelben Hauswand lehnte. Oben auf der Leiter, in schwindelerregender Höhe, sah ich in einem verwaschen blauen Monteursanzug, der ihm viel zu groß war, Jesse, die blonde Mähne zum Pferdeschwanz gebunden und in der Hand einen Zimmermannshammer. In dem noch scheibenlosen Fenster, auf das er eindrosch, erschien Niels. Er stand in einem leeren Zimmer, erklärte mir seine Mutter, er fixierte den Rahmen, damit Jesse ihn im Mauerwerk verkantete. Inzwischen fast Routine, jeder Handgriff der drei saß, lachte sie, richtig nutzlos kam man sich vor! Vier Fenster hatten sie fertig, und sobald auch bei dem letzten die Flügel eingesetzt waren, wollten sie nur noch auf Ove warten, der mit Catinka auf Beobachtungsstreifzug war, und dann losfahren, nach Bayeux zum Einkaufen, Eisessen, Muskelkaterbekommen.
«Alles klar. Flügel!«, hörte ich Jesse rufen und sah im nächsten Moment Niels einen neuen, leuchtend weißen Fensterflügel durch den Rahmen heben und in die Angeln passen.
«Ist das ein Möwenzimmer?«, fragte ich.
«Nein, die sind weiter oben und drüben auf der Meerseite. Jesse und Margo wollen hierbleiben, aber Cat, Niels und ich fahren. Willst du mitkommen? Oder hast du noch zu tun? Entschuldige, wenn ich so doof frage, aber wir würden uns wirklich freuen, wirklich.«
Sie sah mich nicht mal an, als sie das sagte, lächelte nur in sich hinein und blickte zu den drei jungen Fensterbauern hinauf, die auf der Mauer, der Leiter und in einem Zimmer standen, das vielleicht dasjenige war, in dem nun mein Tisch und mein Stuhl auf eine Wiedergängerin warteten.
«Und dein Mann?«
«Bleibt hier. Einer muss ja das Geld verdienen.«
«Passt!«, rief Niels aus dem Fenster, als er die beiden Flügel eingehakt hatte. Jesse jubelte. Und Margo rüttelte an der Leiter, bis er sich festklammerte und sie von oben anflehte aufzuhören.
KEINERLEI DEUTLICHE ERINNERUNG an das Telefonat mit Rebecca Lee, meiner Mutter. Ein leergefegter Kopf. Einzig das Gurgeln und Verlöschen meines Handys im Meer sah ich noch vor mir. Keine Irritation, kein Bedauern, nichts von meinem Groll blieb. Ich fühlte mich wie nach einem Platzregen in einem sehr heißen Juli, wenn Ira und ich den ganzen Tag lang draußen spielen gewesen waren.
Die strahlende Helligkeit hielt noch an. Nur ganz allmählich wurde das prächtige Oktoberblau am Himmel blasser, während ich mit Maybritt und den Kindern im Auto saß und nach Bayeux fuhr. Was mir an Zeichenmaterial und Kleidung auf die Schnelle in die Hände gefallen war, hatte ich in den Rucksack gestopft und obendrauf den Roman gepackt. Ich sah aus dem Fenster über die Felder und versuchte mich zu erinnern, wie lange ich den Grünen Heinrich meines Vaters schon mit mir herumschleppte.
Bei Kellers Buch konnte ich mir ausmalen, dass es nur existierte, weil ich darin las. Der grüne Heinrich war nicht wie ich, sondern ich war er. In seinem und meinem Innern erwachten alle Gedanken gleichzeitig, und wenn Gottfried Keller sagte, Heinrich spiele mit dem Rätsel des Lebens wie mit einer goldenen Kugel, dann verstand ich das auf Anhieb und sah die Kugel und ihre Spiegelungen so wirklich vor mir wie an einer Straßenkreuzung eine blinkende Verkehrsampel.
Die Weite verlor sich, schon kamen wir an ersten grellbunten Lagerhallen vorbei. Überall auf der Welt musste es Möbelmärkte geben. Und auch über den Gebrauchtwagenparkplätzen in der Normandie flatterten silberne Reflektorfähnchen. Bayeuxs Gewerbemischgebiete erinnerten mich an Bad Oldesloe.
«Gruselig«, sagte Niels hinten, als hätte er meine Gedanken gelesen und sich deshalb die Stöpsel aus den Ohren genommen. Man hörte blechernes Scharren, E-Gitarrengeschrammel.»Bitte nicht laufen müssen! Lass uns ins Zentrum fahren, ja?«
«Ich versuch’s. Aber vielleicht gibt es ja kein Zentrum. «Maybritt lachte.»Warst du schon mal in Bayeux?«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, nur den Teppich kannte ich, aber auch den bloß von Abbildungen.
«Wir haben ihn gesehen, letztes Jahr mit den Kindern. Er ist wunderschön, man hat das Gefühl, man fliegt durch die Zeit, wenn man ihn ansieht.«
Mietblöcke, Plattenbauten, Reihenhaussiedlungen mit flachen, tristen, überglasten Einkaufszentren. Fliegt durch die Zeit, wenn man ihn ansieht. An einer Bushaltestelle standen ein paar Frauen im Mantel, die wie grau gewordene Fünflinge wirkten. Etwas weiter am Straßenrand vor einem Bretterzaun voller Zirkusplakate eine Gruppe Teenager mit Baggy Pants und Windjacken. Wie viele dieser Jungs, die da gestikulierten und herumblödelten, hatten wohl den Teppich von Bayeux schon gesehen? Wahrscheinlich alle. Wahrscheinlich wurde jeder von ihnen einmal jährlich durchs Tapisseriemuseum gescheucht, um Vergleiche von mittelalterlicher Darstellungskunst mit heutigen Comics und Mangas über sich hinwegbranden zu lassen. Das Gerippe eines Gasometers rührte mich. Auf den Backsteinsockel eines halb verfallenen Wasserturms hatte jemand SARKOPHAGE gesprüht. Auch die Sarkozy-Zeit war nur noch Erinnerung. Geschäfte, in denen niemand zu sehen war, wo nur Neonröhren brannten. Und im hohen Gras zwischen den Ladenbaracken verrottete ein Anhänger mit einer langen schmalen Schaluppe darauf, das einzige Zeichen von Meernähe.
«Da, rechts geht’s ins Zentrum, da, das Schild!«, brüllte mir Niels erleichtert von hinten ins Ohr.»Yes!«
Ich wandte mich um und sah, dass Catinka stumm aus dem Seitenfenster blickte und wie dabei ihre kleinen Hände die Armlehnen der Sitzerhöhung umklammerten. Über meine Zeichnung und den Rapidographen hatte sie sich wirklich gefreut. Ganz verblüfft hatte sie den Tuschzeichner aufgeschraubt und die schwarze Spitze sehr genau untersucht.
«Nur ist ja Padmé Amidala keine Jedi-Kriegerin«, hatte sie fast ein bisschen eingebildet gelacht.»Die hat kein Laserschwert!«
Als Maybritt meine Versunkenheit bemerkte, tippte sie mich an und fragte, ob alles okay sei. Ich nickte und versuchte ein Lächeln. Und sie zählte auf, was sie sich in Bayeux vorgenommen hatte: einen schönen Barsch kaufen; dazu Endiviensalat; frische Kartoffeln vom Bauern; endlich dunkles Brot! Die Kathedrale würde sie gern sehen, wenigstens von außen. Und vielleicht fand sie einen Friseur, einen Coiffeur, der ihr die Spitzen schnitt.
«Oh nein«, sagte Cat.
«Oh ja«, sagte ihre Mutter.
«Margo kann sie dir schneiden, vor dem Spiegel. Sie sieht ja aus wie du.«
«Fast zumindest. Alles andere wäre auch komisch, oder? Und du wirst auch bald so aussehen.«
«Nein«, sagte Catinka fest,»ich werde anders aussehen.«
Wir folgten den Wegweisern zu einem Parkplatz in Innenstadtnähe. Da stand die Kathedrale. Romanisch. Quatsch, gotisch. Egal. Sie war blassgelb, mit dunklen Flecken, eine Kirche wie eine im Gras liegende schwangere Giraffe, meinte Cat.
Niels wurde von seiner Mutter nach dem Computerspiel gefragt, für das ich mich interessierte, und er wiederholte, was er mir erzählt hatte: Das Spiel, in dem die Pegasusbrücke vorkam, war uralt, und er hatte es in Hamburg gelassen.