Er meinte das wirklich so. In Wirklichkeit ist die Front ein verschlungenes Gebilde. Dass er in Frankreich war, umgeben von Franzosen, die mit ihm in einer Schlange an der Kasse standen, schien er nicht zu bemerken. Oder ich hatte noch nicht bemerkt, dass es den Franzosen egal war, ob wir Deutsche waren, solange wir sie nicht überfielen, sondern wie sie bei FNAC einkauften. Hilfe suchend, oder wenigstens Ablenkung, beobachtete ich die Kassiererin. Wie es wohl war, ein Gesicht voller kleiner roter Flecke zu haben? Sie saß vor einer weißen Sperrholzwand, an die Fotos und Ansichtskarten geklebt waren, Meer und Berge sah man darauf, Freunde und Freundinnen am Strand, beim Wandern, Drachenfliegen oder Skifahren. Ägypten, Vogesen. Korsika, Arosa.
Vor dem Bauch das Buch und im Gesicht ein ernstes Lächeln, schlängelte Cat sich zu uns durch. Möglichst unbeteiligt gab sie mir das Buch, es war schwer, glänzte silbern und kostete noch weniger als das Computerspiel.
«Ich war Zivi auf einer Krebsstation«, sagte ich mehr vor mich hin als zu Niels, obwohl der Satz ihm galt und ihn treffen sollte. Wäre der Junge nicht dagewesen, hätte ich den Satz nicht gesagt, nicht mal gedacht hätte ich an meine Krankenhauszeit, die über fünfundzwanzig Jahre her war.»Kann ich dir ja mal erzählen.«
«Klar, gern. Hab ich auch immer gedacht: wenn Front, dann als Sani. «Das Chamäleon Niels. Eben noch olivgrün, jetzt strahlend weiß. Vielleicht mochte meine Mutter das an dem Jungen nicht. Man wurde aus Niels nicht schlau. Er duckte sich weg, und alles an ihm wirkte aufgesetzt und gespielt, außer seine Beharrlichkeit.
Die Kassiererin nahm Buch und Spiel, scannte die Artikelnummern ein und nannte die Summe, nicht mal zwanzig Euro. Ich gab ihr die EC-Karte. Dabei fiel mein Blick auf die Bilderwand in ihrem Rücken, auf ein Foto, das zwei Frauen am Strand zeigte, Wange an Wange, sonnengebräunt und lachend, hinter sich das dunkelblaue Meer. Eine der beiden Frauen sah aus wie Ira.
War man in der Lage, einen entscheidenden Augenblick zu erkennen? Es war ein Moment wie jeder andere. Ich tippte meine PIN-Nummer in das Kartenlesegerät. Ich hob die Augen, und sofort sah ich wieder das Foto und dass ich mich nicht getäuscht hatte. Die andere Frau auf dem Bild kannte ich nicht. Die Kassiererin war es nicht, sie war bestimmt fünfzehn Jahre jünger. Aber so, wie neben dieser Fremden Ira wirkte, so ausgelassen, obwohl sie kaum jünger schien als zum Zeitpunkt ihres Todes, kannte ich auch meine Schwester nicht.
«Merci.«
«Merci à vous, Monsieur.«
Ich nahm die Plastiktüte, und Catinka und ihr Bruder folgten mir zum Ausgang, wo ein kleines Café war, mit einer cremefarbenen Sesselecke.
«Wartet hier. Ich muss noch mal rein, hab den Rucksack drin vergessen. «Ich gab Niels die Tüte.»Du passt bitte auf deine Schwester auf. Bleibt einfach sitzen. Bin in zwei Minuten zurück.«
Damit eilte ich zurück in den Laden, zurück durch die Regalreihen bis in die Spieleabteilung. Ich spürte, wie mein Herz raste. Es schlug mir bis in den Hals hinauf, als ich den Rucksack unter dem Regal hervorzerrte und weiterhastete. Bei den CDs blieb ich stehen, sah nach unter F, suchte unter FLEETWOOD MAC und fand in dem schmalen Stapel ein Exemplar von Tusk. Wieder stand ich in der Schlange an der Kasse. Ich sah Niels und Cat zusammengesunken in zwei Sesseln fläzen, sie ärgerten einander, bis beide lachen mussten. Und da war das Foto wieder, Schritt für Schritt verblasste mein Zweifel, dass ich mich geirrt haben könnte und einem Trugbild oder Wunschbild aufsaß.
Keine Sekunde lang hielt ich es für möglich, dass ein Wunder geschehen sein könnte. Für mich stand fest, dass meine Schwester gestorben war, es stand so fest wie die Tatsache, dass ich noch lebte. Ich hatte sie im Sarg gesehen. Zwar glaubte ich an die Auferstehung von den Toten, nicht aber dass wir auf diese Welt zurückkehrten. Wiedergänger und Doppelgänger, nichts als grusliger Mumpitz, und auch der Schatten, der mir nachts in meinem Zimmer erschienen war, hatte nichts von einem Geist an sich, oder doch nur insofern, dass er mir durch den Geist gegangen war, als ich fest schlief und träumte.
Jetzt aber träumte ich nicht. Ich war zwar aufgewühlt und hatte zwei Calvados in mich hineingeschüttet, doch stand ich nicht neben mir. Auf dem Foto war Ira zu sehen, und ich wollte wissen, wann und wo das Bild gemacht worden war. Wer war die andere Frau, und wer hatte die beiden fotografiert? Im Grunde wollte ich nur eins wissen, aber das war selbst in meiner Sprache schwer in Worte zu fassen. Wie so ein unfassbarer Zufall zustande kam und was er bedeuten konnte, fragte ich mich und rätselte, wie ich das einer jungen Frau auf Französisch verständlich machen sollte.
Es war das Beste, die Kassiererin offen zu fragen, ob sie etwas über das Foto wusste, und die französischen Brocken, die mir in meiner Aufregung einfielen, reichten vielleicht, um ein paar unverfängliche Sätze zu formulieren. Als ich die CD bezahlte, entschuldigte ich mich, stellte den Rucksack auf den Kassentresen und erklärte, wo ich ihn gefunden hatte. Die Kassiererin nahm ihn mir ab und bedankte sich, sie werde sich drum kümmern.
«J’ai une question, Mademoiselle«, sagte ich lächelnd.»Cette femme là, sur le photo, c’est ma sœur. Elle est morte. Dit-moi s’il vous plaît, est-ce que vous savez qui est l’autre femme, la femme avec les cheveux blondes?«
Die junge Frau drehte sich um und betrachtete das Foto, auf das ich zeigte. Sie sah es sich lange an, fünf Sekunden lang vielleicht, für eine Kassiererin eine kleine Ewigkeit, Momente, in denen sie keine Kassiererin war, sondern eine Frau, die zwei andere Frauen am Meer vor sich sah.
«Das ist eine Kollegin«, sagte sie noch, mit dem Rücken zu mir, in einem schnellen, hellen Französisch. Dann drehte sie sich um.»Sie hat frei. Am Sonnabend ist sie wieder da, Monsieur.«
Ich dankte ihr und nahm die CD, und da sagte sie, es tue ihr leid wegen meiner Schwester. Sie lächelte sehr freundlich, und ich sah noch einmal auf das Foto, prägte mir das Gesicht der fremden Frau darauf ein und ging dann zurück zu den Kindern.
DIE WARTETAGE BIS ZUM SONNABEND verbrachte ich äußerlich ruhig, doch innerlich in einem einzigen wilden Taumel. Die Ereignisse flogen durcheinander, stürzten übereinander weg und jagten davon wie die Möwen. Was ich erlebte und was ich sah, worüber ich mit Juhls und den Kindern redete und was mir durch den Kopf ging, konnte ich in keinen zeitlichen Zusammenhang mehr bringen, und irgendwann gab ich es schließlich auf.
Ich sah den Ereignissen dabei zu, wie sie sich ereigneten. Einmal spätabends, als Cat und ihre Eltern schon schliefen und die drei anderen mit Carlo unten im Fernsehraum waren, lief ich allein durch den mit Bildern behängten Hotelflur und sah in jedes unbewohnte Zimmer, dessen Tür nicht abgeschlossen war. Und als ich endlich ein völlig leeres fand, schleppte ich meine Matratze dort hinein und holte das Bettzeug und die wenigen Sachen, die mir noch geblieben waren. Dann legte ich mich hin und las in einem Zug McCoy Lees Buch Nachrichten von Pegasus durch.
Einen Vormittag lang ging ich mit Jesse, Margo und dem Hund am Strand spazieren. Wir warfen Steine ins Meer, und jedes Mal rannte Carlo bis zur Wasserlinie hinunter und blieb abrupt stehen, indem er die Vorderpfoten in den Muschelkies stemmte. Lange sah er dann hinaus aufs Wasser und schien sich zu fragen, wohin der Stein verschwunden sein konnte.
«Schwimm! Schwimm doch!«, rief Margo ihm zu, aber Carlo ging nie ins Wasser. Jesse nahm Margo in den Arm.
Manchmal küsste er sie auf die Wange oder sie ihn.
Ein paar Stunden lang lag ich an einem Mittag auf meiner Matratze. Das Fenster stand offen, und ich zeichnete. Ich zeichnete, was mir in den Sinn kam, sogar das kleine Mädchen aus dem Grünen Heinrich. Ich zeichnete Meret aus der Erinnerung, dachte dabei an das Buch, das ich so liebte, und fühlte mich auch von ihm befreit. Ohne dafür aufzustehen, zeichnete ich im Liegen den Blick aus dem Fenster, einen Möwenschwarm, die Dächer von Le Mesnil mit den verrosteten Antennen und bald ebenso verrosteten Satellitenschüsseln. Mit einem Mal hatte ich unbändige Lust, Wolken zu zeichnen, Wolken, wie man sie auf Sisleys Bild von der Seine-Überschwemmung sah: Dort trieben sie wie unbeteiligt über die im Wasser stehenden Bäume. Es kann doch kein Zufall sein, wenn dieser Weinhändler A. S. Nicolas dieselben Initialen hat wie Alfred Sisley, dachte ich. Aus dem Zeichnen wurde nichts. Mein letzter Bleistift brach mir ab, und meinen Anspitzer hatte ich nicht mehr.