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Jetzt hatte er ein Outfit. Der neue Rucksack war nötig gewesen, weil der Vorgänger sich auflöste, so lange war ihm Jesse mit Duftspray auf den Leib gerückt. Gut zu riechen war ihm ebenso wichtig wie gut angezogen zu sein. Er trug das Zeug, das fast alle Jungen in seinem Alter anhatten, Kapuzenjacke, Sweatshirt, sackartig fast in den Kniekehlen hängende Jeans, dazu ein markant gemustertes Halstuch, das Bandana genannt wurde, und Turnschuhstiefel, die heute High-tops hießen und ohne Firlefanz zu sein hatten. Eine Kappe mit dem Emblem der New York Yankees, die jahrelang sein Erkennungsmerkmal gewesen war, trugen jetzt alle, die jünger waren und glaubten, die Yankees spielten Football. Nein, keine Baseball-Kappe mehr. Seit er lange Haare hatte, trug er nichts mehr auf dem Kopf.

Seine Haare waren Jesse nicht nur wichtig. Sie bedeuteten. Nicht nur seine Persönlichkeit drückten sie aus, sondern eine Verbindung, wenn nicht Verbindlichkeit. Es war nicht einfach, mit ihm darüber zu sprechen. Wahrscheinlich hätte er von Schicksal geredet. Jesses Haare bedeuteten, aber was sie bedeuteten, blieb dem Zufall überlassen, kraft dessen sie ohne Schnitt, ohne Frisur oder» Fasson«, wie seine Oma es nannte, im Grunde nur eins taten, nämlich länger werden. Sie machten, was sie wollten. Und was sie wollten, war wachsen. Sie waren frei. Blond, glatt, fast schulterlang, bestätigten Jesses Haare die Ansicht seiner Mutter vom Zufall als Sprache der Welt, auch wenn Jesse diese Begriffe allesamt für fragwürdig hielt. Absolut unfragwürdig war hingegen das Schicksal, denn es war eine Fügung, jung zu sein und wachsen zu müssen.

Während ich den Wagen durch den vormittäglichen Berufsverkehr von Lokstedt und Stellingen in Richtung Elbtunnel lenkte, redeten wir nicht viel. Jesse war verschlafen. Nach den vierzehn Stunden, die er üblicherweise schlief, war er noch müde, vielleicht auch vergrätzt, es war schwer auszumachen, da er den Kopf ans Seitenfenster gelegt hatte und ihm die Haare ins Gesicht fielen. Ich fragte ihn, wie es um seinen Hunger bestellt sei, und er schüttelte den Kopf. Gefrühstückt hatte er nicht. Allerdings frühstückte er so gut wie nie. Auch Musik hören wollte er nicht, und sich unterhalten offenbar noch weniger. Am Frühstückstisch hatte mich meine Mutter daran erinnert, dass der Junge seine Zeit brauchte, bis er bei Sinnen und ansprechbar war.

Nein, er schlief nicht. Ab und zu rieb er sich etwas aus dem Gesicht. Dann strich er die Haare beiseite, und ich sah seine Lider halb offen stehen, darunter aber einen leeren und so gelangweilten Blick, dass es mir grauste. Dann wieder amüsierte er sich, nicht ersichtlich, worüber, mit einem Lächeln, das demjenigen seiner Mutter glich und doch gefestigter, weniger verletzlich war. Ob ihm schlecht sei oder etwas fehle, fragte ich mehrmals, als wir auf der Autobahn nach Bremen waren. Weil er jedoch jedesmal verneinte, ließ ich ihn in Ruhe, fand mich damit ab, dass ich am Steuer zu sitzen hatte, und ertappte mich dabei, dass ich lieber umgekehrt und ohne ihn gefahren wäre.

Es war Zufall, dass ich als Zeichner in die Normandie geschickt wurde, und es war Zufall, dass auch der Junge in die Normandie fahren wollte, es war ein solcher Zufall, dass ich gar nicht anders konnte, als Jesse mitzunehmen.

Etwas nördlich von Bayeux lag ein altes Strandhotel. Das L’Angleterre sollte im nächsten Frühjahr verkauft und instand gesetzt oder aber abgerissen werden. Der Vater von Jesses bestem Freund Niels war ein dänischstämmiger Ornithologe, er hieß Juhl. Niels, seine Eltern und zwei Schwestern verbrachten die Herbstferien an der nordfranzösischen Küste und wohnten dort in dem leerstehenden Hotel. Juhls hielten das, was von dem Haus übrig war, in Schuss, heizten die Zimmer, besserten etwas aus, machten den Hotelgarten winterfest und ließen Einbrecher und durch die Dünen streifende Jugendliche gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen. Dafür bewohnte die Familie umsonst eine ganze Etage im L’Angleterre. Niels’ Vater, der Ornithologe, hatte so schon öfter Berufliches mit einem Familienurlaub verbunden, im Brandenburgischen und an der Nordsee, vor allem aber in Polen und Skandinavien hatten seine Frau und er Hotels gehütet, die im Herbst und Winter leer standen. Dabei machte sich Herr Juhl gar nichts aus heruntergekommenen Küstenpensionen und verlassenen Strandhotels. Als Vogelkundler interessierten ihn einzig die Rastplätze der Seevögel in der Nähe.

So hatte es Jesse seinen Großeltern erzählt. Und er hatte den Wunsch geäußert, Niels und dessen Familie in dem Hotel am Ärmelkanal zu besuchen, ein Wunsch, der insofern ein kleines Wunder darstellte, als es sich Jesse so gut wie abgewöhnt hatte, Wünsche zu äußern.

Nicht dass er keine hatte. Von seinem Prinzregententaschengeld kaufte er sich Schuhe oder Klamotten. Mal sparte er auf ein Mountainbike, mal auf eine neue Spielekonsole. Fragte man ihn aber zu Weihnachten, seinem Geburtstag oder einfach nur so, ob er einen Wunsch hatte, dann sagte er entweder nichts oder sagte einem genau das ins Gesicht.

«Nichts.«

In den drei Monaten, die Jesse nach dem Tod seiner Mutter nicht zur Schule gegangen war, hatte ihn Niels fast täglich besucht. Wenn sie in seinem Zimmer Musik hörten, lagen sie auf dem Fußboden und rangelten zu» Polly «oder» Come as you are«. Nirvana war die Band, der sie alles glaubten, und dabei spielte eine nicht unerhebliche Rolle, dass es Nirvana nicht mehr gab, seit sich der Sänger mit einem Gewehr ins Gesicht geschossen hatte. Da waren sie noch gar nicht auf der Welt gewesen. Stundenlang konnten sie auf einem Mauervorsprung vorm Haus hocken, sich ab und zu knuffen und schieflachen, wenn mit Helm und Ellbogenschützern Niels’ kleine Schwester Catinka und eine ihrer Freundinnen auf ihren Kickrollern vorbeibretterten. Oder sie skateten selbst durch die Siedlung am Helmut-Thielicke-Wäldchen, so lange, bis es meine Mutter vor Sorge nicht mehr aushielt und meinen Vater mit dem Wagen losschickte, damit er nach den Jungs sah und sie zurücklockte in die Nähe des Hauses oder wenigstens auf die Straße, damit man sie vom Küchenfenster aus im Blick behalten konnte.

Aber sie lernten auch. In der Schule besorgte Niels Bücher, kopierte Diagramme und Zeichnungen, Referate und Abschriften von Klassenkameraden, die in Gesellschaft oder Mathe besser waren, und brachte alles Jesse. In Deutsch stand Bölls Kriegsprosa auf dem Lehrplan, Der Zug war pünktlich, Wo warst du, Adam?, Das Vermächtnis. Aus dem Zimmer im ersten Stock drang Stille in den Flur, wenn die beiden die Schlacht um Stalingrad durchgingen. Irgendwann steckten sie den MP4-Player in die Anlage, drehten sie laut, um zu verkünden, dass sie es geschafft hatten. Wie durchs Schulgebäude der Gong dröhnten dann Limp Bizkit und andere Bands, die sie gerade mochten, durch Iras Haus, in dem jetzt Jesse mit seinen Großeltern lebte.

Zwischen Hamburg und Bremen auf der schnurgeraden, endlos scheinenden Autobahn Richtung Westen fahrend, schaltete ich auf der Suche nach Musik, auf die wir uns einigen konnten, das Radio ein. Seit geraumer Zeit sah Jesse aus dem Fenster. Plattes Land lag in der Mittagssonne und wurde nur gelegentlich von einem Verkaufsparkplatz für Nutzfahrzeuge, einer Raststätte oder umgebauten, flügellosen Windmühle unterbrochen. Das Schnarren aus den Lautsprechern, die Berieselung durch immer gleiche Hits, Katastrophenmeldungen und Werbejingles taugten wenig, um einen Teenager aus der Lethargie zu reißen.