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Am 7. Juni 1944, dem Tag nach dem D-Day, notierte McCoy Lee:»Infanteristen des Essex-Regiments und der South Wales Borderers haben mit Unterstützung von Panzern der Sherwood Rangers bei nur geringfügigen Zerstörungen Bayeux befreit. Die Rangers waren die ersten Truppen in der Stadt. Zu ihrer Erleichterung fanden sie außer wenigen befestigten Stellungen und einzelnen Scharfschützen keine Deutschen vor, sodass Schäden an historischen Gebäuden vermieden werden konnten. Einwohner bereiteten ihnen spontan einen begeisterten Empfang! Viele bewarfen die Panzer mit Blumen. Woher kamen die ganzen schönen Blumen? Und die Mädchen, eins hübscher als das andere? In ihren Sommerkleidern sahen sie wie glücklich lächelnde Gespenster aus.«

Für einen Nachmittag fuhr ich mit Niels, Catinka und ihrer Mutter zu zwei Brücken, die Kevin Brennicke in seinem Dossier beschrieb. Maybritt fuhr uns mit dem Volvo, weil mir der Daimler da schon nicht mehr gehörte. Wir fuhren nach Westen über La Cambe, wo es einen großen deutschen Soldatenfriedhof gab, folgten der N13 bis Isigny und dann der N174 vorbei an Montmartin-en-Graignes in südliche Richtung bis Saint-Lô. Ich erzählte Niels, dass die Stadt eine der am schlimmsten zerstörten in der Normandie gewesen war, praktisch kein Baum und kein Haus waren stehen geblieben, als sich die Front durch den Wald von Cerisy bis Saint-Lô und über die Stadt hinweg nach Süden gewälzt hatte.

Und er erwiderte, das sei ja wohl auch kein Wunder!» Die Alliierten haben Saint-Lô bombardiert und zusammengeschossen, bis sie die Nazis und die Kollaborateure aus der Stadt vertrieben hatten, und dabei sind auch tausende Einwohner draufgegangen.«

Unwiderlegbar. Dennoch, man konnte es so nicht stehen lassen.»Es war Krieg, da passieren die grausamsten Dinge«, sagte ich.»Du vergisst, wer die Eroberer waren und wer die Eroberten. Soweit ich weiß, haben Amerikaner und Briten zumindest versucht, die Leute vorzuwarnen, ehe sie angriffen. Ich glaube, die allermeisten Franzosen hätten ohne Weiteres zugestimmt, Saint-Lô zu zerstören, wenn dadurch die Deutschen vertrieben wurden.«

«Ohne Weiteres? Na, ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich auch zugestimmt«, maulte er zurück.»Trotzdem. Die Stadt wurde ausgeräuchert wie ein Rattennest. Ey Mann, ich hab es zig Male gespielt. Wusstest du, dass es ein US-Indianerregiment gab, das als Vorhut in die Kämpfe geschickt wurde?«

Maybritt hielt es für besser, das Thema zu wechseln. Keinen Streit so dicht vor dem Ziel, bitte! Sie wolle sich in Ruhe die Gegend ansehen. Und es würden auch jüngere Ohren zuhören.

«Ich höre gar nicht zu, ich lese«, sagte Catinka. Sie hatte ihr Star Wars-Buch mitgenommen und klappte es erst zu, als ihr übel wurde.

Die Gegend um Souleuvre war waldig und hügelig. Das Gras leuchtete noch saftig grün, und überall waren weiße oder braune Flecken, Schafe, vielleicht Rehe.

Der kleine neopazifistische Klugscheißer mit seinen virtuellen Fronterlebnissen. Als wir auf einem Brückenpfeiler der Eisenbahnviaduktruine standen, überlegte ich kurz, so zu tun, als wollte ich Niels hinunterstoßen. Aber ich ließ es bleiben, vor allem wegen Cat, die sich entweder an ihre Mutter oder mich klammerte. Der Junge zog eine Flunsch, weil das Bungee-Jumping, mit dem Maybritt ihn geködert hatte, nur am Wochenende stattfand. Ein eiserner Steg mit Geländer führte zu dem Pfeiler hinüber, und in die Betonplattform für die Springer hatte man dutzende Karabinerhaken getrieben. Wir standen viel höher, als ich gedacht hatte. Unten im Tal sah man Tiere, doch was für welche, war nicht zu erkennen.

Auf meiner Matratze dachte ich ein paarmal auch daran, die Ruine von Souleuvre zu zeichnen, tat es aber nicht. Stattdessen bildete ich mir ein, oben, in einem leerstehenden Zimmer im dritten Stock, die umhergeisternden Vögel zu hören. Ob sie flatterten, scharrten oder plötzlich ruhig waren, immer schienen die Möwen zu staunen, und genauso kam mir mein Grübeln vor, wenn ich mich fragte, woher dieser abgrundtiefe Widerwille vor dem Zeichnen mit einem Mal kam.

Eigentlich dachte ich achtundvierzig Stunden lang: Warum sah sie auf dem Bild so glücklich aus? Da waren der Strand, das Meer, die andere Frau. Beide hatten große modische Sonnenbrillen, beide hatten sie in die Stirn geschoben. Ira war braun vor lauter Sonne, aber hatte einen blassen Nasenrücken wie früher im Garten und damals in Rio. Ihr Lächeln war beinahe Lachen. Man sah auf dem Foto ihr altes Lachen. Wieso wirkt sie so sorglos, fragte ich mich, wieso hat sie mich alleingelassen, wenn sie kurz zuvor noch so fröhlich war?

«Du kennst doch bestimmt den Eiffelturm«, sagte ich zu Cat auf dem Pfeiler.»Derselbe Mann, der den Turm gebaut hat, der hat die Eisenbahnbrücke gebaut, die hier mal stand und bis da rüber ging, und ein bisschen sah sie sogar aus wie der Eiffelturm, nur als würde er nicht aufrecht stehen, sondern liegen.«

«Tja, nur dass es den Eiffelturm wirklich gibt, den hab ich ja gesehen«, sagte sie.»Er sieht aus wie ein riesiges leuchtendes A. Davon habe ich zwei in meinem Vornamen, du nur eins.«

Ich sah über die Kante zum Grund der Talsenke. Am Fuß des Pfeilers stand ein verlassener Bauwagen, ich blickte von oben genau auf sein Wellblechdach.»Dafür hab ich in meinem Nachnamen zwei E’s«, sagte ich,»und du hast leider gar keins.«

Auf der Fahrt nach Caen erzählte Niels, wie komisch er es gefunden hatte, durch Bayeux zu laufen, vorbei an Häusern und sogar Bäumen, die er alle aus Angels of Mercy kannte. Über den Marktplatz war er in dem Spiel immer wieder gelaufen, bei Nacht und am Tag. Manchmal standen lauter britische Sherman-Panzer auf dem Kopfsteinpflaster, manchmal flog ein Erkundungsluftschiff über die Stadt, aber meistens war es ganz leer und still dort, und er und seine Kameraden mussten schwer bepackt mit MP und Rucksack in jedes Haus gehen und nachsehen, ob sich Deutsche darin versteckt hielten.

Maybritt sagte dazu nichts, sie zog nur ab und zu die Augenbrauen hoch, und ich hatte keine Lust, mich mit ihrem Sohn anzulegen, bloß um am Ende als Moralonkel dazustehen. Durch den Wald von Cerisy fuhren wir Richtung Nordosten, bogen aber kurz vor Bayeux ab auf die N13 nach Caen und kamen an denselben Ausfahrten vorbei wie Jesse und ich ein paar Tage zuvor mit dem Mercedes. Ich erzählte, wie Jesse die Namen Bretteville-l’Orgueilleuse und Sainte-Croix-Grand-Tonne aneinandergehängt hatte, und Cat lachte sich schief.

An der Ruine in Souleuvre hatte sie eine große Weinbergschnecke entdeckt und mitgenommen, um sie im Hotel zu zeichnen.

«Sie ist schön, und sie ist lieb, und jetzt hat sie auch einen Namen. «Catinka legte sich die Schnecke auf die flache Hand, wo sie ab und zu tatsächlich den Kopf aus ihrem Haus hervorstreckte.»Ich werde sie L’Orgueilleuse nennen.«

Am Strand unterhalb Le Mesnil rannte Margo weit voraus und versuchte immer wieder, Carlo ins Wasser zu locken. Jesse machte keine Anstalten, ihr zu nachzurennen, und so nutzte ich die Gelegenheit und sagte ihm, dass ich gern, nur kurz, über seine Mama mit ihm sprechen würde.

«Frag«, sagte er wenig erstaunt.»Was willst du wissen?«