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Ich fragte mich, wieso sich Ira als großen grauen Zugvogel bezeichnet und ob sie damit wohl einen Kranich gemeint hatte.

«Wer bestimmt eigentlich, dass es in Europa nur Graukraniche gibt?«, fragte ich Ove und kam mir wie ein trotziger Teenager vor.

«Woher weißt du, dass du nicht gerade durch Tokio läufst? Ihre Flugrouten liegen zigtausende Kilometer voneinander entfernt. Sie verlassen sie nicht, leider sind sie da stur«, sagte Ove.»Sie kommen schon immer hierher, so wie die Mandschuren- und Schneekraniche von Sibirien nach China und Japan.«

«Du hast mich gefragt, wieso ich aufgehört habe zu malen. Warum hast du aufgehört, über Vögel zu schreiben?«

«Weil man nicht mehr sieht, was man beschreibt. Jan Ove Juhl, willst du erblinden? Das fragte ich mich. Es geht nur noch um Darstellungen und Beschreibungen. Wenn du aber immer das Gleiche sehen willst, so wie ich mich nun mal von diesen dürren Froschfressern nicht losreißen kann, musst du dich entscheiden. Ich hab mich für stures, nichtsnutziges Beobachten entschieden, mange tak. Analyse und Aufklärung, Übermittlung und Überlieferung, von mir aus. Aber ohne mich. Gerade haben sie in Amerika herausgefunden, dass die Laubenvögel Früchte danach aussuchen, ob sich damit ein Ziergarten anlegen lässt. Hast du schon mal von Laubenvögeln gehört? Nur der Mensch und der Laubenvogel legen Ziergärten an auf der Welt … wie klingt das für dich?«

«Plump.«

«Da drüben«, flüsterte er mit seiner Mischung aus düsterer Unruhe und hoffnungsvoller Erwartung,»da fangen zwei an zu tanzen, guck hin! Bei Mandschuren sieht das ganz anders aus. Auf Hokkaido haben Britta und ich geheult, als wir sie sahen, so schön waren sie. Heute bin ich schon froh, wenn sie mir noch auffallen.«

Er sagte Britta zu seiner Frau, weil auf der Insel im Kattegatt, von der sie kamen, sie jeder so nannte. Er kannte Maybritt seit 1966, und ich fragte mich, wie es ihm wohl erginge, wäre sie verschwunden, wie Ira es war.

«Ich werde versuchen hierzubleiben, vielleicht sogar den ganzen Winter«, schrieb ich Kevin Brennicke.»Tut mir leid, aber die Brücken kann ich nicht zeichnen, sehe mich absolutement nicht dazu in der Lage. Bitte gib den Auftrag einem anderen. Solltest Du Unkosten deswegen haben, wird Saskia sie begleichen. Ich maile ihr. Alles Gute für Deine Familie, herzlich und mit besten Wünschen für Eure D-Day-Ausgabe.«

Danach schrieb ich meiner früheren Frau und jetzt auch ehemaligen Nachbarin. Ich bat Saskia, einen Makler mit der Neuvermietung des Studios zu beauftragen.»Nimm Dir von meinen Sachen, was Du gebrauchen kannst, und gib den Rest bitte zur Haushaltsauflösung. Von dem, was du rauskriegst, überweis mir die Hälfte. Wenn überhaupt, komme ich erst nächstes Jahr zurück. Ab sofort bin ich offline und auch anders nicht zu erreichen. Es geht mir gut, ich hoffe, Dir auch.«

Einmal, als ich abends in die Küche kam, küssten sich Maybritt und Ove, und Cat stöhnte laut vor peinlicher Berührtheit.

«Wenn du geküsst werden willst, such dir jemand anderen«, sagte sie zu ihrer Schnecke L’Orgueilleuse.

Ich fragte Jesse, der im Bad stand und dort nicht Erkennbares an seinem Körper untersuchte, ob seine Mutter kurzes oder noch langes Haar hatte, als er sie mit diesem Koffer sah. Aber er wusste es nicht mehr, und auch ich war mir gar nicht mehr sicher, ob Ira auf dem Strandfoto lange Haare hatte oder kurze.

Die Nacht darauf war die letzte vor meiner Fahrt nach Bayeux. Lärm in einem Zimmer über meinem Matratzenlager weckte mich, und kurz darauf hörte ich Türenknallen und Getrampel. Ich ging hinauf in den dritten Stock und fand Jesse und Margo in einem der Möwenzimmer.

Sie hockten auf dem Boden und beruhigten den Hund. Margo versuchte, ihn aus dem Zimmer zu locken, doch er ließ sich nicht dazu bewegen. Carlo saß inmitten des Gemetzels, das er unter den Möwen angerichtet hatte, und blickte mich verständnislos an.

III. EBEN BILDER

1

Die letzte Fahrt mit dem brombeerroten Mercedes meines Vaters machte ich am Sonnabendmorgen zu Flauberts Autohof in einem tristen Vorort von Bayeux.

Das zweigeteilte Areal, Schrottberge rechts, Gebrauchtwagen links, lag am Rand der Reihenhaussiedlung von Saint-Loup. Weite flache Felder, über denen der hellblaue Spätoktoberhimmel stand, begannen jenseits eines baumkronenhohen Zauns und verloren sich im Landesinneren. Ich fuhr den Wagen auf den Hof. Bis zu einer Reihe im Sonnenlicht blinkender Silberpappeln türmten sich Blech und Aluminium nicht nur von Schrottautos, sondern auch Schrottwaschmaschinen, Schrottgeschirrspülern, Schrottmikrowellen und Schrottbadewannen. Ein kleiner roter Gabelstapler kurvte durch die Altmetallgassen, auf der Gabel das Wrack eines Motorrads. In einem Zwinger zwischen lauter Wäscheständergestängen erhob sich ein kupierter Dobermann von seinem Sonnenfleck und gähnte. Und ich war kaum auf dem Teerstreifen vor den Gebrauchtwagenangeboten ausgestiegen und rübergegangen zu dem rundum verglasten Verkaufspavillon, als ich hörte, wie die zuschanden gefahrene Yamaha in die Presse rutschte und ihr Tank darin zerplatzte.

Der goldene SM war nirgends zu sehen. Wie sich herausstellte, war Monsieur Flaubert tatsächlich nicht da. Ein dicker junger Verkäufer, der ihm so ähnlich sah, dass er nur sein Sohn sein konnte, saß in einem viel zu engen Anzug und mit roséfarbenem Hemd hinter dem Tresen. Sein Hemdkragen sah schmierig aus und schimmerte, und weiter hinten in dem muffigen Raum telefonierte an einem Stehpult voller Papiere eine junge Frau in Leggins und Anzugweste, die unentwegt in den Hörer lachte. Ich nickte beiden zu. Der feiste Junior sagte Bonjour, und die Sekretärin drehte sich zur Wand, sodass ich nicht anders konnte, als ihr auf den Hintern zu sehen. Munter lachte sie weiter.

Das Geschäftliche wickelten wir auf Englisch ab. Flauberts Verkäufer prüfte die Fahrzeugpapiere, befand sie für okay, schob mir den Vertrag her, den ich überflog und unterschrieb, dann nahm er die Schlüssel und kam um den Tresen. An seinem Kinn saß eine Narbe, die man für ein Grübchen hätte halten können, und bei genauerem Hinsehen hatte er ein eingeschlagenes Nasenbein. Die Nase war nicht richtig plattgedrückt, sie sah nur aus, als fehlte ihr ein Stück, als wäre das Mittelstück des Rückens herausgeschlagen worden.

«Annik, fini maintenant!«, blaffte er, ohne sich umzudrehen, die Sekretärin an, die augenblicklich gehorchte. Mit einem Gluckser in den Apparat verabschiedete sie sich und legte auf.

«Monsieur?«

Monsieurs Gesicht entspannte sich. Er hielt mir die Tür auf, und wir traten ins Freie. Ein Traktor mit einem Anhänger voller Heizkörper rollte soeben auf den Hof, der Fahrer mit hochrotem Glatzkopf hob zum Gruß die Hand, ehe der Trecker pötternd zwischen den Schrottbergen verschwand.

Erst am Wagen, wo er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte, stellte sich der Junior vor: Flaubert. Didier. Ich sah zum Pavillon hinüber und las auf dem Dach den Schriftzug, der auch auf den Abschleppwagen prangte: FLAUBERT & FILS. Flauberts Sohn schritt um den Mercedes; ab und zu bückte er sich, kam wieder hoch und schnaufte. Sein Handy klingelte. Er drückte eine Taste, lauschte, keuchte eine Silbe und ließ das Gerät zurückgleiten ins Sakko.

In der Kastanienkrone über dem Holzhaus sah ich ein Eichhörnchen sitzen, das an einem Zweig rüttelte, innehielt, sein dunkles Auge auf uns richtete, weiterrüttelte.

«Bon, Monsieur Lee.«

Er öffnete die Beifahrertür, um nachzusehen, wie es im Innenraum aussah. Im Handschuhfach fand er Jesses Nirvana-CD mit dem tauchenden Säugling darauf und reichte sie mir wortlos nach draußen. Dann baute er sich vor mir auf, steckte sich wie der junge Belmondo die Fluppe unter den ramponierten Zinken und entstülpte einem Hosensack ein Bündel Geldnoten, das er mit Daumenschnippen auseinanderklappte.

So kam ich zu genug Bargeld, um davon einen oder zwei Monate lang existieren zu können. Als ich aus dem Schrotthof trat und tief einatmete, ehe ich mich in Richtung Bushaltestelle in Bewegung setzte, rechnete ich nach, wie viel Geld auf meinem Konto sein musste, und überschlug dann, wie viel Saskia überweisen würde, sobald ich das Studio und den ganzen Krempel darin los war. Selbst wenn ich die errechnete Summe niedrig hielt, reichte sie für ein gutes halbes Jahr.