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Den Mercedes würde ich nie wiedersehen. Er gehörte jetzt dem dicken Didier und dessen Vater, die ihn genauso weiterverscherbeln würden wie das L’Angleterre. Es half einem nicht weiter, sich von den Dingen bloß zu trennen. Vor allem musste man sie vergessen, nur wie stellte man das an? So viele in der Welt herumliegende Dinge — Schals, Schirme, Schrott — kamen mir vor, als hätte ich selber sie vergessen. An die beiden Schrotthändler würde ich schon in einer Stunde nicht mehr denken. Ich musste den geliebten früheren Wagen meines Vaters nur ebenso erfolgreich verdrängen. Er würde nie in seinem neuen Carport stehen.

Didier hatte mir geraten, nach Saint-Loup-Hors hineinzugehen, dort fuhr ein Bus ins Bayeuxer Zentrum. Als ich auf der Rue Saint-Lô dahintrottete und mir vorzustellen versuchte, was mich bei FNAC erwartete, fuhr der über und über mit Werbung für ein isotonisches Getränk beklebte Bus an mir vorbei, und es dauerte nicht lange, bis ich an einer Haltestelle auf einem tristen baumlosen Platz nachlesen konnte, dass der nächste erst in vier Stunden kam.

Um vier Stunden mit Nichtstun in einem Haltestellenhäuschen zu verbringen, waren meine Auflösungserscheinungen noch nicht weit genug vorangeschritten. Ich ging zu Fuß, ging los und hielt mich einfach an die Wegweiser. Aber sehr weit kam ich nicht. Ein schwarzer BMW stoppte, das Beifahrerfenster fuhr runter, und am Steuer saß Flauberts Sekretärin und lachte mich an. Sie hatte kurzes blondes Haar und so silbern getuschte Wimpern, dass ihre Augen wie aus Chrom schienen.

Annik war ein Himmelsgeschenk. Sie sprach gut Deutsch, hatte Zeit, war kurzentschlossen und nicht zimperlich, ein heller Kopf mit einem Herz für Mitmenschen, die sich am Rand hielten.»She’s lost control «von Joy Division lief in dem alten 3er, und spätestens als ich Ian Curtis von Fehlern und Irrtümern singen hörte, die eine Frau immer wieder zum Schreien brachten, fragte ich mich, wieso ausgerechnet diese junge Frau in Flauberts Baracke saß und für den alten Schrotthändler und seinen Sohn Kaffee kochte.

Aber sie hatte doch Feierabend! Annik war bester Laune. Der Schrotthandel gefiel ihr, immer kam jemand anderes auf den Hof, denn Schrott hatte jeder, nur wussten es die meisten nicht. Monsieur war ein angenehmer Chef, bloß Didier musste man sich mitunter vom Leib halten, einmal in der Woche blähte er sich zu einem Ballon, auf dem NACHFOLGER stand, doch sonst war er … ein guter Mensch.

Sie bestand darauf, mich direkt bis zum FNAC-Hintereingang zu fahren, da konnte sie halten, und sie fragte, ob ich wirklich Zeichner war, wie Monsieur ihr erzählt hatte, und warum ich den Mercedes verkaufte.

«Ja«, sagte ich lustlos und dachte den Satz im Stillen zu Ende: Zumindest war ich das mal, ein Zeichner.

Es war nicht weit bis in die Innenstadt, doch es war viel Verkehr und die City voller Leute. Ich erzählte, dass ich erst nächstes Jahr zurückginge nach Deutschland, wenn überhaupt, und dass ich mir im Bessin vielleicht ein Haus kaufen wollte, woran ich nie im Leben gedacht hatte und auch jetzt nicht dachte. Ich wollte mal einfach nichts tun, sagte ich, und dazu brauchte ich keinen Wagen. Der Daimler sei eh zu groß gewesen.

«Für mich«, sagte Annik,»kann ein Auto gar nicht groß genug sein. Vielleicht«, sie lachte,»kaufe ich Ihren Mercedes! Ich bekomme Rabatt, und nicht wenig! Denn der hier, das ist der BMW meines Prinzen. Ein Kratzer, und ich bin nicht mehr.«

Von der Seite musterte ich sie. Sie war Anfang dreißig, etwas füllig, nicht hübsch, aber anziehend. Ich hatte eine Jugendfreundin gehabt, an die Annik mich erinnerte. Vor dem Gymnasium, unter einer jungen Platane, hatte sie mir im Beisein von Kevin Brennicke und Gordian Rogalla eines Tages einen grünen Zettel in die Hand gedrückt, der aussah wie ein Blatt und auf dem nur ein Satz stand:»Der Zug ist abgefahren.«

«Hätten Sie Lust, sich etwas Geld zu verdienen? Hundert Euro in zehn Minuten?«

«Machen Sie mir ein unmoralisches Angebot?«

«Nein. Oder doch? In gewisser Weise.«

«Für Liebesdinge ist mein Prinz zuständig.«

«Es geht um ein Gespräch, ich brauche einen Dolmetscher. Und Sie sprechen Deutsch.«

«Meine Mutter ist Deutsche. Worum geht’s denn?«

Ich versuchte es ihr zu erklären. Ich erzählte von Ira, meiner toten Schwester. Ich sagte:»Es wird kein einfaches Gespräch.«

Polizei?

Ich schüttelte den Kopf.

Ärzte?

Auch nicht. Ich schüttelte den Kopf und sah vorm Fenster eine schmale Gasse auftauchen; inmitten einer Menschentraube stand dort ein Notarztwagen mit rotierendem Blaulicht.

Aber schon war alles wieder verschwunden, ausgelöscht, als hätte ich es bloß geträumt.

«Da hat’s jemanden erwischt. «Annik klappte ihre Chromwimpern auf.»Also was für ein Gespräch soll ich dolmetschen? Es geht um Geld, ja?«

Ich erzählte von dem Foto und wo ich es gesehen hatte. Iras Tod tat ihr leid, die hundert Euro wollte sie auf keinen Fall. Sie würde mich begleiten, sie wollte sowieso was besorgen. Als wir geparkt hatten, lachte sie über das schwarze Autodach hin:»Gut möglich, dass ich die Verkäuferin, die Sie suchen, kenne. Sie heißt Séverine. Ich bin mir sicher!«

2

Séverine hieß mit Nachnamen Laudec und war unverkennbar die blonde Frau, die auf dem Strandfoto Wange an Wange mit meiner Schwester zu sehen war. Madame Laudec nahm das Foto in die Hand, als sie Annik und mich in einem kleinen weißen Zimmer in der Nähe der Rolltreppe begrüßte. Sie sah genauso aus wie auf dem Bild, war nur nicht gebräunt und alles andere als gelöst. Eine schöne freie Woche schien sie nicht gehabt zu haben. Aber sie war am Leben, anders als die Frau neben ihr auf dem Bild. Und wie sie das Foto so betrachtete, musste auch ihr dämmern, wie nah sie an jenem Sommertag an irgendeinem Meer dem Tod gekommen war.

Annik erklärte ihrer Bekannten mein Anliegen. Die Verkäuferin blickte dabei zu Boden, und ich hatte Gelegenheit, sie mir genauer anzusehen, ohne sie damit zu verunsichern. Sie hatte starkes Untergewicht und dünnes strähniges Haar, außerdem auffallend zierliche Hände, die sie aber nicht pflegte. Annik dolmetschte, dass ich um drei Auskünfte bat: Wie gut hatte sie Ira gekannt? Wo und wann war das Foto entstanden? Wer hatte es gemacht?

Séverine Laudec legte die Fotografie auf einen Stapel Inventurklemmordner, der auf einem Tischchen lag, hinter das sie sich geflüchtet hatte. Sie sah abgekämpft aus, obwohl es erst Mittag war. Ich fragte mich, was ihr fehlte, während sie aus der Kitteltasche ein Haargummi hervorfingerte und sich mit kurzen, nervösen Bewegungen einen Pferdeschwanz band. Sie war mindestens fünfzehn Jahre älter als Annik, offenbar kannten sich die beiden nur flüchtig. Mit überraschend tiefer Stimme erzählte Madame Laudec, was sie von dem Foto wusste, dabei duzte sie Annik, obwohl diese sie gesiezt hatte.

Wortlos hörten wir ihr zu. Sie ließ das Ganze nicht an sich heran; selbst mir, der ich kaum ein Wort verstand, fiel auf, wie bemüht sie war, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen.»Je n’ sais plus«, sagte sie zum Schluss fast schrill, zuckte dabei empört mit den Achseln und griff dann trotzig noch mal zu dem Foto.

Ich mochte sie. Kurz fragte ich mich sogar, ob sie vielleicht deshalb so bekümmert war, weil auch sie Iras Tod nicht verwinden konnte. Doch auch so mochte ich den müden Trotz in ihren Augen, ihr verhärmtes Rebellieren, mochte, wie sie sich gegen die Verzweiflung stemmte, und konnte mir Ira an ihrer Seite gut vorstellen. Gemeinsam waren sie bestimmt stark gewesen und hatten, wie auf dem Foto, eine schöne Zeit miteinander verbracht.