Выбрать главу

Annik drehte sich zu mir. Sie sah mich an, und ich sah ihr zum ersten Mal offen in ihre seltsam silbernen Augen. Dann sagte sie ruhig, dabei warm und alles andere als förmlich:»Séverine meint, dass Sie sich irren. Es tut ihr leid. Die Frau auf dem Foto kann nicht Ihre Schwester sein. Sie spricht zwar deutsch, aber sie ist keine Deutsche, sondern Elsässerin. Sie heißt nicht Ira, und sie ist auch nicht tot. Sie ist am Leben, zumindest war sie es noch letzte Woche. Sie arbeitet in Cherbourg, in einem Fährbüro. Das Foto ist von letztem Sommer. Es wurde auf Korsika gemacht, im Urlaub, von ihrem Mann.«

«Sie ist verheiratet?«

Annik fragte, wen ich meine.

Und ich sagte:»Ich meine die Frau, die haargenau wie meine Schwester aussieht, aber angeblich nicht meine Schwester ist. Hat sie einen Mann?«

«Sie wollen, dass ich sie das frage?«

Ich schüttelte den Kopf … Meine alte Niedergeschlagenheit regte sich, sie war es, die den Kopf schüttelte, während ich bloß dasaß.

«Sie wird sich die Frage verbitten«, sagte Annik.»Sie möchte ja nicht mal den Namen ihrer Freundin nennen. Sie sagt, es kommen dauernd irgendwelche Typen, die FNAC für eine Singlebörse halten. Außerdem meinte sie nicht ihre Freundin, sondern sich selber: Séverines Mann hat das Foto gemacht, und ich kenne Henri, er ist der Cousin von … egal. Monsieur Markus, Sie sind in Bayeux! Hier kennt man sich. Henri knipst alles, er ist ein …«

«… Fotofreak.«

«Voilà.«

Die Verkäuferin wollte wissen, ob sie noch gebraucht wurde. Die Hände in den Kitteltaschen, kam sie um den Tisch herum und blieb vor Annik stehen. Endlich lächelte sie, und schon sah sie ganz und gar wie auf dem Bild aus. Séverine küsste Anniks Wangen, auch ich wollte geküsst werden, mir aber streckte sie nur die Hand hin. Immerhin ein Hauch ihres Lächelns war dabei noch zu sehen.

Es war eine schmale Hand an einem dünnen blassen Arm, und ich konnte nicht anders als mir auszumalen, wie diese Hand und dieser Arm Ira berührt und umfangen und festgehalten hatten. Dafür war ich Séverine Laudec dankbar. Es war ein herbeigewirbeltes Bild von meiner Schwester, wie ich sie nicht kannte, Ira fröhlich in den Ferien, und dabei spielte nicht mal mehr eine Rolle, ob sie oder wirklich eine fremde Frau auf dem Foto zu sehen war.

Ich bedankte mich, und sie ging. Annik und ich blieben in der offenen Tür stehen und sahen Séverine zwischen zwei Regalen voller Spielekonsolen verschwinden. Als sie außer Sicht war, ging Annik zu dem Tischchen, nahm das Foto von dem Klemmordnerstapel, drehte es um und gab es dann mir.

«Stecken Sie es ein. Ich nehme das auf meine Kappe — so sagt man doch? Auf der Rückseite steht was. Aber lesen Sie es erst im Wagen!«

Im Laden sagte sie, dass sie mich natürlich nach Le Mesnil fahren werde. Am L’Angleterre sei sie schon lange nicht mehr gewesen.

«Kommen Sie. Der Tag ist jung!«

Sie fuhr einen anderen, schnelleren Weg zum Hotel. Wir kamen durch Vaux an der Aure, ein Flüsschen, über das weiter südlich eine Brücke führte, die das Brennicke-Dossier auflistete. Ein stiller Weiler mit einer Ziege mitten auf der Dorfstraße hieß La Buhennerie. Von dort aus führte die einspurige Straße immer geradeaus zur Küste und nach Le Mesnil.

Annik erzählte, während ich vor mich hinbrütend aus dem Fenster sah. Sie erzählte, dass sie das L’Angleterre noch kannte, als Monsieur Flauberts Mutter und deren Schwester Madame Belze dort das Zepter schwangen und den Hotelbetrieb auf Trab hielten. Madame Belze war ein Ungeheuer, das wie eine nette alte Dame aussah, genau umgekehrt war es bei der winzig kleinen, verschrumpelten Madame Flaubert … Wieder und wieder las ich, was auf der Fotorückseite geschrieben stand. Die Vornamen der beiden Frauen, den Namen des Strands und das Datum, das fünfzehn Monate zurücklag:

Sév & Lilith

Plage de Guignu

Corse, 7 /11

Corse war Korsika, Sév die Abkürzung von Séverine. Und Séverines Freundin, die wie meine Schwester aussah und angeblich in einem Fährbüro in Cherbourg arbeitete, nannte sich offenbar Lilith. Im Hintergrund war nicht viel auf dem Foto zu erkennen, ein paar andere Badegäste, Kinder, Senioren. Sonnenschirme und Liegestühle, auf allen derselbe Schriftzug: HÔTEL SAINT-FLORIN. Ganz hinten, sehr klein, stand im gleißenden Licht das Hotel selbst, auf dem Dach in weißen Buchstaben sein Name.

«Mögen Sie Joy Division?«, fragte Annik, und ich nickte. Aus den Lautsprechern kam der wuchtig vorangetriebene Puls von» Heart and Soul«, mit dem Joy Divs Closer nach der Hälfte der Songs noch einmal neu begann. Wenn ich richtig rechnete, war das Album von 1980; ein paar Wochen nachdem sich Ian Curtis das Leben genommen hatte, war die Platte herausgekommen, ich hatte sie mit Kevin bei Michelle am Glockengießerwall gekauft, im Sommer, als Ira auf Sprachreise nach Bournemouth und ich mit unseren Eltern allein nach Fehmarn gefahren war.

«Ja, ich mag sie noch immer sehr«, sagte ich nach einer Weile.»Die haben mir die Unschuld geraubt. Aber ich hör sie nur selten. Es gibt ja so Joy Division-Tage. Wie alt sind Sie?«

«Zweiunddreißig. Ich wurde in dem Frühling geboren, als sich Ian Curtis umgebracht hat. Für mich ist jeder Tag ein Joy Division-Tag. Schon meine Mama hat sie gehört und mir den Namen von Ian Curtis’ belgischer Freundin gegeben. Ich höre die Musik jetzt seit acht Jahren fast jeden Tag. Seit ich bei den Flauberts arbeite!«

Aus dunkler Kehle lachte sie, und mir fiel wieder ein, was Jesse gesagt hatte:»Belgien bringt nur Unglück in die Welt.«

«Irgendwie passt die Musik zu einem Schrottplatz«, sagte Annik.

«Dem Schrottplatz der Erinnerungen vielleicht.«

«Oui! Und ich arbeite bei der Freudenabteilung. Wissen Sie, warum die Band sich so nannte?«

Ich hatte von den KZ-Bordellen der Nazis gelesen. Annik sagte, so eine Freudenabteilung habe es auch in einem Hamburger Konzentrationslager gegeben.

«Neuengamme«, sagte sie nach einer Pause.

Und ich:»Mir schlägt schon der Name aufs Gemüt.«

Sie drehte die Musik lauter.»Was wollen Sie jetzt machen? Sie wirken … ziemlich erledigt.«

«Ich habe Ihrem Chef versprochen, ein bisschen auf das Hotel aufzupassen, das war Teil des Deals. Mir gibt das Zeit. Diese Lilith kennen Sie nicht?«

«Nein, nie begegnet. «Sie zog die Mundwinkel nach unten.»Aber es dürfte nicht schwer sein, sie zu finden. Sie wollen sie suchen?«

Ich wusste es nicht. War es das, was ich wollte — einer Frau begegnen, die wie Ira aussah, mich vielleicht sogar mit ihr unterhalten? Wozu? Was dann? Seltsam, dass dieser Séverine nicht aufgefallen war, wie ähnlich ich ihrer Freundin sah und was für einen großen Zufall das alles ergab. Aber vielleicht war es ihr ja aufgefallen, und deswegen war sie so verstört. Oder sie hatte es nur deshalb nicht bemerkt, weil sie ihre Freundin ganz anders kannte. Vielleicht sah Lilith überhaupt nicht aus wie Ira, vielleicht ähnelte sie ihr nur entfernt, in bestimmten Momenten, und so einer war an dem korsischen Strand gewesen.

Das kann doch alles gar nicht sein, dachte ich. Mit einem Ohr hörte ich, was Annik von ihrem Freund erzählte. Sie redete wie ein Wasserfall, allmählich ging sie mir auf die Nerven. Ich unterdrückte das Gefühl, versuchte ihr zuzuhören, aber dachte immer wieder: Das ist doch alles gar nicht möglich. Annik erzählte, dass ihr Freund Serge hieß und dass er verheiratet war. Er hatte eine Frau und zwei kleine Kinder und lebte mit seiner Familie in Carentan, auf halbem Weg nach Cherbourg. Sie sah ihn alle zwei Wochen, für einen Nachmittag, einen Abend, über Nacht so gut wie nie. Sobald er nach Bayeux kam, wechselte Serge den Wagen, dann nahm er den BMW. In Carentan trug er Kontaktlinsen, bei ihr nahm er sie raus und setzte sich eine alte Brille auf, die ihn viel älter machte. Annik und er fuhren herum, wenn sie zusammen waren, an wenig besuchte Orte, sie gingen viel spazieren, gondelten durch die Gegend, sie waren immer allein. Glücklich machte sie das nicht, aber ab und zu fröhlich, und das war nicht wenig.