«Carentan? Was meinst du damit?«
«Anniks Freund lebt nicht in Caen, sondern in Carentan.«
«Wo er Familie hat.«
Ihre Empörung war echt, auch wenn sie nicht verriet, was nach ihrer Ansicht Anniks Liaison mit mir zu tun hatte. Lieber nahm sie erneut das Spinnennetz ins Visier.
«Los, gehn wir rein. «Ich schnippte die Zigarette in den Kies, merkte, wie der Impuls wiederkam, sie anzufassen, und griff ihr in den Arm und drückte ihn hinunter.
«Jetzt lass doch die Spinne! Die rächt sich noch und kriecht heut Nacht zu dir ins Bett.«
Natürlich verstand sie die Doppeldeutigkeit, aber sie ging nicht darauf ein, oder vollkommen anders, als ich es erwartete.
Ove und die Jungs waren nach oben gegangen, Margo und Cat räumten den Tisch ab. Ich spürte fast als Stechen, wie die Zeit verstrich. Maybritt rief nach dem Hund, und schon hörte man es bei der Mauer rascheln. Da standen die Schlehenbüsche, die Johannisbeeren. Ein Schatten kam angetrabt, Carlo, hörbar erleichtert.
«Markus«, sagte sie, als ich schon auf den Stufen war.
Im Halbdunkel stand sie vor mir, die Blüten auf ihrem Kleid vollkommen schwarz.»Ich wollte dir sagen, dass ich auf ihn aufpassen werde, nicht nur auf der Heimfahrt, sondern auch in Hamburg werde ich auf Jesse aufpassen, solange du weg bist.«
«Ich danke dir, Britta.«
«Aber du musst auch auf dich aufpassen. Versprich das. Ich meine es ernst. Wir haben dich lieb, Cat und ich und Margo, aber Niels und Ove genauso, auch wenn die es nicht zeigen. Ove hat sich gar nicht von dir verabschiedet, und ich weiß, warum. Wir möchten alle, dass du zurückkommst. Kannst du das bitte versprechen?«
Ich umarmte Margo, die dabei ihre Gitarre festhielt, dann bückte ich mich, stützte mich auf einem Knie auf und nahm auch Carlo in den Arm. Ich sah, wie sein Blick mich kurz streifte, sah aber kein Begreifen darin, und noch einmal stieg mir sein berauschender Schnauzergeruch in die Nase. Weil er es so liebte, klopfte ich ihm zum letzten Mal den Rücken ab. Ich folgte Maybritt auf die Treppe zur Lobby. Sie ging voraus, und ich stieg ihren glänzend rasierten Waden hinterher und hielt dabei Catinka im Arm, die sich an mich presste und schlafend stellte. Als wir oben über den schweren Teppich gingen, drehte sich Maybritt um, lächelte mir zu und ging dann weiter zur großen Treppe, wo an den Wänden die Bilderflut begann. Wir stiegen in den ersten Stock, dann weiter in den zweiten, dabei rührte sich das Mädchen in meinem Arm kein einziges Mal. Cat war leicht und schmal, aber in den Gliedern spürte man ihre kleine Kraft und die Zähigkeit, mit der sie durch den Tag wirbelte.
Vor ihrer Zimmertür nahm mir Maybritt die Kleine ab. In dem dünnen Flurlicht war es kaum heller als draußen im Hotelhof, aber es war hell genug, um Catinkas Auge zu sehen, das von der Brust ihrer Mutter zu mir her blickte. Es ging erst zu, als Maybritt den Arm ausstreckte und mich zu sich zog, damit wir uns umarmten.
Unten in der Lobby klingelte das greise Telefon hinter dem Rezeptionstresen. Es bimmelte, bimmelte noch mal und noch mal, aber wie immer in der vergangenen Woche nahm auch jetzt so lange keiner ab, bis das Geklingel verstummte und es in den Fluren und Zimmern wieder still war.
Zuletzt strich ich Cat über die Stirn. Auf Maybritts Arm hielt sie das mir zugewandte Auge geschlossen, dafür aber sagte sie etwas zum Abschied, bloß ein einziges dänisches Wort, und ich wiederholte dieses traurige Farvel.
Die Jungs hatten beschlossen, die Nacht durchzumachen und erst auf der Fahrt zu schlafen. Ihr Zimmer sah aus wie immer, packen würden sie morgens. Niels lag auf dem zerwühlten Bett vor dem Laptop und sah sich Musikclips an, zum Gruß hob er die Hand und fragte, in welches Zimmer ich ziehen würde, sobald sie weg waren.
«Oder willst du jetzt im Carport übernachten?«
Da grinste er.
Einer der glücklichsten Menschen, die ich kannte, fiel mir mit einem Mal ein, als ich den schlaksigen Jungen so daliegen sah. Mein Nachbar im Hamburger Portugiesenviertel tat rund um die Uhr nichts, als in einem Sessel, den er alle zwei Jahre im Internet neu bestellte, vorm Rechner zu sitzen. Er unterhielt sich im Netz, ließ sich übers Netz sein Essen kommen, liebte treu und anhänglich ein paar Frauen auf Pornoseiten und verdiente das Geld, das er für Miete, Nahrung und seine mütterliche Reinmachefrau benötigte, mit dem An- und Verkauf von gebrauchten PC-Rollenspielen. Er war nicht gesund, und er wusste, dass er nicht immer Troglodyt bleiben konnte. Doch solange er es konnte, war er liebend gern ein Höhlenmensch, einer, der seine Marihuanalieferantin» meine Köchin «nannte, weil sie ihn getreulich versorgte und zu ihm ins Haus kam. Bestimmt, es fehlte ihm an Bewegung. Kreuzbein, Knie und Zähne machten ihm zu schaffen. Doch ich kannte niemanden, der so sehr in sich ruhte und dabei so freundlich war wie mein Nachbar, mein früherer Etagennachbar in der Rambachstraße am Hamburger Hafen.
«Gar keine schlechte Idee, kleine Ratte«, sagte ich zu dem grinsenden Niels und bat dann Jesse, er möge mal raus in den Flur kommen. Er stand draußen auf dem Balkon, vertieft in sein Smartphone, mit im Nachtwind wehender Mähne.
Es war nicht viel, was ich ihm zu sagen hatte. Jesse ins Gewissen reden wollte ich nicht, ebenso wenig mich entschuldigen. Außer ihm hatte jeder wissen wollen, warum ich den Mercedes verkauft hatte, warum ich nicht mit zurückkam und was ich vorhatte. Jesse schien das alles nicht zu kümmern, ein Desinteresse, das ich verletzend fand und auf den Einfluss seiner Großmutter zurückführte, mit der er offenbar weiter in Kontakt stand. Niels’ Frage, ob ich in den Carport umzuziehen gedenke, war kaum Zufall gewesen.
Wir tauschten ein paar Floskeln aus. Ich wünschte ihm eine gute Heimfahrt, bat ihn, auf sich aufzupassen, und er antwortete höflich, bedankte sich müde und wollte so schnell wie möglich zurück zu seinem Kumpel oder seinem Handy.
So trat er in dem schummrigen Flur von einem Bein aufs andere, wich meinem Blick halb aus und hielt ihm halb stand. In den vergangenen acht Tagen waren wir uns nähergekommen, vor allem auf der Herfahrt und wenn wir abends alle in der Küche zusammensaßen und rumblödelten. Doch durfte ich nicht gleich glauben, diese Nähe wäre von Dauer. Je vertrauter mir der Junge wurde, umso ferner fühlte ich mich ihm. Ging es ihm genauso? Ich konnte seine Verschlossenheit nicht deuten. Doch wenn ich vor ihm stand, dann konnte ich von seinem Gesicht ablesen, wie verschlossen ich selber war.
Ich fragte, was Niels und er die ganze Nacht machen wollten.
«Nichts«, lautete die Antwort, so als gäbe es wirklich nichts, was zwei junge Kerle eine Nacht lang auf dieser Welt anfangen konnten.»Was sollen wir schon machen.«
Schlafen? Lesen? Reden? Musik hören und dabei packen?
«Wir spielen ein Spiel zu Ende. Vielleicht kommt Margi rüber und macht Musik. Und vielleicht gehn wir noch raus, auf die Steilküste oder zum Wasser runter. Ich meine: Wir müssen uns ja wohl irgendwie von allem hier verabschieden.«
Ich nutzte die Gelegenheit und fragte ihn, ob sie kifften.
Empört schüttelte er den Kopf.
Und sie koksten auch nicht und tranken auch nicht. Sie chillten, sie gammelten, sie spielten, nichts weiter, es tat ihm leid! Er wünschte mir eine gute Zeit und wollte gehen.
Das Beste war noch, betrunken am Strand zu schlafen. Das hätte ich Jesse gern gesagt, doch leider, dafür war er noch nicht alt genug. Und heute betrank man sich auch anders als vor dreißig Jahren, bildete ich mir ein. Außerdem war es schon zu kalt, um am Strand zu übernachten.
«Komm mal mit ins Licht«, sagte ich stattdessen,»ich will dir was zeigen.«
An der Treppe war es am hellsten. Missmutig stapfte er in seinen klobigen Turnschuhen und mit einer Hose, die ihm sonst wo hing, neben mir her. Die Einzigen, die im L’Angleterre von morgens bis abends die Schuhe anbehielten, waren er und ich, und von den Baggy Pants hatte er einmal beim Abendbrot erklärt, dass sie Zeichen rebellischer Solidarität seien. Die Hosen hingen absichtlich so tief. Es war eine Mode, ja. Aber sie bedeutete etwas. Sträflingen in US-Gefängnissen wurde vorsorglich der Gürtel weggenommen, deshalb rutschten ihnen die Hosen runter.»Trotzdem Uniform«, hatte Niels am Tisch gespottet und von Jesse nur Hohn dafür geerntet:»Du bist selber eine Uniform, Digga.«