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Vor der Bilderwand, auf die der Treppenstrahler gerichtet war, zog ich das Foto aus der Tasche und zeigte es ihm, hielt es aber fest, damit er es nicht umdrehte.

«Oha! Kenn ich nicht, das Bild. Wo ist das? Ist ja krass.«

Ich sagte ihm, was ich von dem Foto wusste, nicht aber, wer die beiden Frauen waren. Ich beobachtete ihn, und ich sah in seinen Augen, dass er auf Anhieb seine Mutter erkannte.

Dass er eine Fremde vor sich sah, sagte ich ihm nicht. Zum Abschied aneinandertippende Faustknöchel. Jesse schlurfte zurück, während ich nach unten ging und mir in der Küche ein Glas Calvados mit Perrier mixte. Im ersten Stock setzte ich mich in den Billardraum, trank den Drink sehr langsam und hörte auf die Geräusche im Haus. Einige Jahre lang war es besser geworden, doch seit Iras Tod konnte ich es in dunklen Zimmern wieder kaum länger als eine Minute aushalten. Die endlos währende Helligkeit aber machte mich auch nicht ruhig. Immer im Licht, blieb ich in einem Zustand permanenten Aufgescheuchtseins.

So saß ich in einem der alten Fauteuils vor Regalen voller genauso alter Bücher. Ich nahm mir vor, mein Konto aufzulösen, sobald Saskia den Erlös aus dem Studio überwiesen hatte. Ich nahm mir vor, außer dem Bargeld alles in meiner Brieftasche wegzuwerfen, und ich fragte mich, wie lange es wohl dauerte, bis man sich ohne Ausweise und Chipkarten auch namenlos fühlte. Schon kam ich mir wie ein anonymer Fremdling vor, und als der spielte ich eine Partie Billard gegen mich selbst, meine frühere Existenz, und gewann. Siegprämie war ein Glas mit unverdünntem Calvados, das unten in der Küche auf mich wartete.

Ich trank, ließ dabei die Augen über die Regalwand wandern und hielt im nächsten Moment einen Band mit Hemingways Storys in der Hand. Ich las, und die Unheimlichkeit der Nacht umgab immer tiefer und undurchdringlicher das helle Zimmer. Hotel, Hof, Mauer, Steilküste, der Strand und das Meer, alles war dunkel. Mit dieser Vorstellung schlummerte ich in meinem Sessel ein und wachte nur einmal auf, als die Kinder sich rausschlichen, um sich von allem zu verabschieden.

4

Als ich das nächste Mal aufwachte und langsam zu mir kam, war der ganze Spuk vorbei. Ich lag auf dem Sofa im Billardzimmer. Dem milchigen Licht zufolge musste später Vormittag sein. Im L’Angleterre war es so still, dass man nur den ums Haus pfeifenden Wind hörte, und sofort wusste ich, sie waren weg, seit Stunden.

Ich duschte, ich frühstückte. Ich las den Brief, den Ove Juhl mir geschrieben hatte und der auf der Rückseite einer Zeichnung von Catinka stand, einem großen A inmitten von lauter kleineren, lauter Eiffeltürmen. Oves Nachricht bestand aus einem einzigen langen Satz. Er schrieb, dass es schön gewesen sei, mich kennenzulernen, und dass Britta und er mir gern ihre Insel zeigen würden, die Insel, von der sie kamen. Unweit von Samsø liege sie, sie heiße Sejerø und habe die Form eines Vogelflügels, der Schwinge von einer Sturmschwalbenart, die es nur im Kattegat gebe.

«Farvel — Jan Ove«, war ganz unten und sehr klein auf dem Blatt zu lesen.

Im Anorak stand ich in der Lobby und wartete eine halbe Stunde lang ab, ob das Telefon tatsächlich klingelte, nur weil ich es wollte. Ein alter Voodoozauber, der mit schnurlosen Geräten nicht funktionierte. Die Kunst bestand darin, beharrlich zu bleiben, mit stoischer Heiterkeit musste man seine Gedanken fokussieren und den Wunsch Wirklichkeit werden lassen. Je öder einem nämlich wurde, umso unwahrscheinlicher war ein Anruf. Ira hatte immer fest daran geglaubt, dass man das Naturgesetz des Schweigens durchbrach, wenn man aus tiefstem Herzen wollte, dass einen jemand anrief. Ich lehnte mich gegen den Rezeptionstresen und dachte darüber nach, ob ich mit Juhls über ein wie eine Vogelschwinge geformtes dänisches Eiland streifen wollte. Die Vorstellung hatte etwas erschreckend Unwirkliches, und ich fragte mich, ob sich so vielleicht Ira gefühlt hatte. Das tosende Branden auf den Autobahnen und Ausfallstraßen, jetzt wünschte ich es mir zurück, und weit weg die Stille, diesen schweigsamen Verkehr von Gespenstern. Erstmals seit Wochen stieg mir eine Traurigkeit durch die Kehle, die alle Lust am Grübeln verscheuchte. Ich wollte nur noch warten, darauf, dass jemand anrief, darauf, dass sich etwas ereignete, etwas Unvorhersehbares erwarten!

Endlich klingelte es, markerschütternd schallte es durch das ganze Hotel, aber ich stand bloß da, blickte ungläubig zu dem Apparat und hob erst ab, als mir der Lärm schon durch sämtliche Glieder brauste.

Es war wirklich Annik.

Da war ich ja! Wie war das Abschiedsessen verlaufen? Was machte ich jetzt, war es okay, so allein in dem alten gestrandeten Tanker? Wirklich fröhlich klang sie nicht. Sie schien müde, vielleicht übernächtigt, vielleicht hatte sie auch gar nicht geschlafen, sondern nur vergeblich auf ihren Freund gewartet.

«Hatten Sie einen schönen Nachmittag?«

«Es war schön, sehr schön, und sehr kurz, wie immer. Ich freu mich aufs nächste Mal. Vielleicht kann er am übernächsten Wochenende über Nacht bleiben. Seine Frau und die Kinder fahren dann nach Alençon.«

Um das Thema zu wechseln, erzählte ich, was ich vorhatte. Ich erzählte von dem Fahrrad, das nicht weit vom Vogelschutzgebiet in einem Gebüsch lag und das ich mir holen wollte, um es zu reparieren.

«Und wohin wollen Sie radeln?«

Ich radelte nicht, sondern fuhr mit dem Rad. Das Fahrrad sollte mich beweglich halten, und deshalb würde es auch nicht mir gehören. Es war bloß ein zufälliges Fahrrad. Annik sagte ich das nicht. Ab und zu wollte ich nach Marigny, wo es ein Bar-Tabac und einen Krämerladen gab, sagte ich. In Marigny hielt außerdem der Bus nach Bayeux.

«Lilith heißt eigentlich Lilia, Lilia Muller, aber jeder, den ich gefragt habe, nennt sie Lilith.«

«Wen haben Sie denn alles gefragt?«

«Ich habe Séverine angerufen und mich entschuldigt, dass ich versehentlich das Foto eingesteckt habe. Ich soll es irgendwann vorbeibringen … Den Nachnamen fand ich im Netz. Lilith hat auf der Hotelhomepage den Urlaub auf Korsika bewertet, und sie schrieb da, dass sie aus Cherbourg sei. Na ja, und in Cherbourg gibt es nur noch drei Fährbüros, und bloß eins, bei dem eine Lilia oder Lilith Muller arbeitet.«

«Sie haben aber nicht mit ihr gesprochen, hoffe ich.«

«Als ich in Cherbourg anrief, ging nur der Wochenenddienstleiter ran. Lilith, sagte er, ist am Montag wieder da, also morgen. Wollen Sie hinfahren? Ich leihe Ihnen den Wagen.«

«Danke, Annik, das ist nett. Aber ich denke, ich werde darauf verzichten. Ich kenne die Frau ja nicht. Sie sieht zufällig wie meine Schwester aus, das ist alles. Zu wenig und genauso zu viel, um jemandem nachzustellen und ihn in ein Gespräch zu verwickeln, finden Sie nicht?«

«Doch, finde ich auch. Sie haben recht. Pardon. Ich wollte Ihnen nur helfen, Sie wirken so traurig.«

«Sie auch. Und Sie haben mir ja geholfen. Ich würde Ihnen auch gern helfen. Nur fällt mir zu Ihnen und Ihrem Freund kein Rat ein, und darum lass ich’s.«

«Ich weiß ja selbst nicht, was ich davon halten soll!«, seufzte sie und schien allmählich wach zu werden. Da war wieder die frohgemute Verve vom vorigen Nachmittag in ihrer Stimme.»Wissen Sie, Serge und ich, das geht schon sehr lange. Ich war noch ein Huhn. Und er nicht verheiratet. Verstehen Sie? Es ist nicht die bekannte Geschichte. Es ist anders, es ist ernst, und wir versuchen alles, um keinem wehzutun, auch uns selber nicht.«

«Haben Sie heute wieder so silbern geschminkte Augen?«, fragte ich, und da lachte sie so wie gestern in Flauberts Baracke.