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Von dem Wochenendchef des Fährbüros hatte Annik außerdem erfahren, dass Lilia Muller für die Ausrüstung der drei firmeneigenen Schiffe zuständig war. Die Fähren pendelten mehrmals täglich zwischen Poole und Cherbourg, und Lilith prüfte, ob die Sicherheitsvorschriften eingehalten wurden und ob es den Besatzungen, dem Servicepersonal und den Passagieren an Bord gutging. Lilith habe den besten Job von allen, hatte der nette ältere Herr am Telefon zu Annik gesagt. Im Büro stehe zwar ihr Schreibtisch, aber die meiste Zeit sei sie unten am Hafen bei den Docks oder draußen auf einer Fähre.

«Nicht vergessen«, sagte Annik,»Supermanche heißt die Linie, und das Fährbüro ist direkt am Hafen. Ich werde morgen übrigens mit Didier sprechen und ihn fragen, was er — abzüglich Rabatt — für Ihren Mercedes haben will. «Sie verabschiedete sich und sagte ernst:»Ach ja. Und auch mich — bitte nicht vergessen.«

Ich versprach es ihr, und dann legten wir auf. Nach kurzem Zögern hob ich wieder ab und legte den Hörer daneben.

Den Rest des hellen Tages verbrachte ich allein mit mir und an der frischen Luft. Im Gerätehaus am Frühstückspavillon fand ich eine handliche Heckenschere und nahm zur Sicherheit auch einen Schraubenschlüssel, einen» Knochen«, wie mein Vater gesagt hätte, und eine Kombizange mit. Es war ein windiger, immerhin trockener Tag. An der Pavillonmauer entlang blinzelte ich durch die Böen in Richtung englische Küste. Die See lag unter grauem Dunst, kein Schiff war zu sehen, nicht ein einziger Trawler.

Ich hatte über den Strand und am Vogelschutzgebiet vorbei gehen wollen, überlegte es mir der Windstärke wegen aber anders und verließ den Hof durch das Tor, ließ es offen stehen und bog dann in den Heckenweg zur Straße nach Arromanches. Der Oktober ging über in den November, doch noch waren Strauchwerk und Bäume kaum gelb. In die Büsche links und rechts fuhr der Sturm, Vögel sausten wie vom Wind abgefeuerte Pfeile durch die Luft. Das Rauschen von all dem Dunkelgrün machte mich ruhiger. Ich hatte noch eine halbe Packung Chesterfields und hatte nicht vor, mir neue zu kaufen. Als ich den ersten Rauch in den Wind blies und der ihn schluckte wie ein Hai, fühlte ich mich mit meiner Schere, meinem Schlüssel und meiner Zange gewappnet, und so stiefelte ich drauflos und ließ die unguten Gedanken kommen und wieder verschwinden, bis sich auch gute einstellten.

Ich rauchte und dachte darüber nach, was Annik über sich und ihren verheirateten Serge gesagt hatte. Es war ernst. Es war anders. Sie wollten niemanden verletzen. Ich versuchte mir Serge vorzustellen, einmal mit Kontaktlinsen, einmal mit Brille. In einer Doppelhaushälfte seine Frau und seine Kinder. In der Auffahrt parkte ein Van.

Ich versuchte mir vorzustellen, dass Serge auch ein wildes Leben führen wollte, ein festes, sicheres, ehrenhaftes in Carentan, daneben aber das unruhige und unsichere Parallelleben, das er mit Annik führte und das keine Ehe war und mit Ehre nichts zu tun hatte.

Der Wind fegte die Asche von der Zigarette. An ihrem Glutkegel zündete ich mir die nächste an. Meerwärts, über die Äcker und Stoppelfelder hinweg, sah ich den Dünenwall, er lag da wie eine weiße eingefrorene Welle. Annik tat mir leid, doch vielleicht war das ungerecht. Sie liebte Serge, und er liebte offenbar auch sie, das machte alles andere zweitrangig. Wenn sie klug war, tat sie nichts, um ihr Leben zu ändern. Lass sie klug sein. Lass sie seine fröhliche Geliebte bleiben, solange sie es erträgt, dachte ich. Knicks, freie Felder und die alten windschiefen und einzeln am Straßenrand stehenden Bäume kamen. Links das Vogelschutzgebiet und das L’Angleterre, und dahinter war der Ärmelkanal, weit draußen stemmte sich jetzt doch ein Fischtrawler durch die Wellen und nahm Kurs auf die Irische See.

Ich versuchte mir Didier Flaubert als Matrose vorzustellen, sein teigiges Gesicht schmal, überzogen vom Salzfilm aus Wind und Wasser. Ich rauchte und dachte zwei Zigaretten lang über die Schiffsausrüstungsprüferin Lilith Muller aus Cherbourg nach, die ich nicht kannte, aber die wie meine tote Schwester aussah und nicht einmal wusste, dass sie eine Doppelgängerin gehabt hatte. Ich fragte mich, welchen Sinn es haben sollte, sie um ein Treffen zu bitten, ihr irgendwo in Cherbourg gegenüberzusitzen und ihr ins Gesicht zu starren. Was hatte ich zu verlieren? Und zu gewinnen? Gab es überhaupt etwas zu gewinnen? Und zu verlieren?

Die Goldammern, die keine Goldammern sein konnten, waren auf und davon in wärmere Gefilde. Der Wind hatte alle Vögel aus den Dünen vertrieben, nur noch die großen, unantastbaren Möwen sah man am Himmel. Sie hatten mich schon gesehen, als ich noch weit weg ein Mann auf der Landstraße gewesen war. Kaum lief ich über den Sandweg zum Strand hinunter, verschärften sie ihr Warngeschrei, formierten sich weit oben erst zu einer Wolke und segelten dann einzeln herunter und immer näher, um auszukundschaften, was ich vorhatte. Ich schnitt mir einen Durchlass in den Stechginsterbusch. Seemöwen, seht her!

Es dauerte geraume Zeit, bis ich das Fahrrad zum ersten Mal greifen und am Sattel aus seinem Dornenrankengewirr herauslösen konnte, ein weißes Peugeot-Damenrad. Den Gepäckkorb und das darin zusammengerollte Kettenschloss ließ ich liegen. In Ruhe rauchte ich die letzte Zigarette, blickte dabei übers Meer und dachte an meine nächtlichen Radtouren mit Ira und wie viel sie währenddessen geraucht hatte. Dann warf ich die leere Packung und das Feuerzeug weg. Als ich meine Beute davonschob, drehte ich mich nicht um, doch ich wusste, in meinem Rücken würde der Stechginster alles tun, um die Tür, die ich in ihn hineingeschnitten hatte, so schnell wie möglich wieder zu schließen.

5

Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss …«— zwei Tage lang, während ich in der Hotelküche das Fahrrad auseinandernahm und wieder zusammenbaute, fragte ich mich, versuchte mich mit aller Macht zu entsinnen, wie dieser Vers weiterging. Aber ich kam nicht drauf, wurde immer wütender auf mich und mein löchriges Gedächtnis und setzte schließlich alles daran, auch den Versanfang zu vergessen.

Stattdessen entdeckte ich eine Verbindung zwischen Frühstückspavillon und Gerätehaus: Hinter einer Tapetentür führte ein schmaler, von einer nackten Glühbirne erhellter Gang in den Schuppen. Er hatte ein einziges kreisrundes Fenster, wie ein leuchtend blaues Auge sah es aus. In den Regalen der kleinen Hotelwerkstatt fand ich alles, was ich für meine Reparatur brauchte, sogar eine Dose Kettenspray.

Auf einen Sonnentag folgte erneut ein grauer, von Sturmböen durchjagter. Im Hotelhof lag von Tag zu Tag mehr Laub. Im gleichen Tempo leerte sich Maybritts Kühlschrank. Ich aß wenig, trank tagsüber viel Wasser und abends fast ebenso viel Wein. Auf der Suche nach dem Weinkeller fand ich mich mitten in der Nacht in einer Speisekammer wieder, wo Konserven und Eingemachtes standen und jede Menge Weißwein lagerte.

«Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss …«— was dann, wie ging es nach dem Schluss weiter?

Was tun, wenn du dich aufzulösen beginnst, wie verschwindest du dann wirklich? Und was sollte das eigentlich heißen: verschwinden? Ich fertigte eine Zeichnung an, und nach der baute ich das Rad Stück für Stück wieder zusammen. Teile, die ich nicht brauchte, ließ ich weg, und wieder einmal staunte ich, wie wenig doch dran war an so einem Fahrrad und wie schmal alles war und wie genau es zusammenpasste. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Wie im Rausch, einem besinnungslosen Taumel, hatte ich Freunde, Eltern, Beruf, Besitz, mein ganzes Leben hinter mir gelassen. Ich hatte nicht alle Zelte abgebrochen, sondern nur meins, denn die anderen konnten mir gestohlen bleiben. Und jetzt, wohin jetzt? Nirgendwohin, ins Nirgendsland.

Es war nicht die bekannte Geschichte. Es war etwas anderes. Es war ernst. Es ging um die Frage, ob das noch ein Leben war oder nicht bloß die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen. Die Antwort, erstaunlich, war einfach: Finde es heraus.