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«Hast du eine CD, die du hören willst?«, fragte ich ihn deshalb, bekam aber keine Antwort. Ich knuffte ihn auf den Oberschenkel und sagte lächelnd mit einem Kopfschütteln:»Oh Mann, das kann ja echt lustig mit dir werden.«

Sofort ließ der Klaps ihn herumfahren. Mit weit aufgerissenen Augen sah er mich an, sagte jedoch nichts, bis er den Ohrhörer herausnahm. Was denn? Ob wir schon da wären, wollte er allen Ernstes wissen.

«Nein. Wir sind noch nicht mal in Bremen«, sagte ich genervt, und dass er noch warten müsse bis morgen Nachmittag, aber so lange ja weiter Musik hören könne.

«Du bist wirklich der perfekte Kopilot.«

Zerhackter, schneller HipHop kam aus dem Stöpsel in seiner Faust.

«Ist das Eminem?«

«Ich muss mal. Und hab Hunger. Geht aber, keinen Stress. War echt idiotisch, morgens loszufahren, find ich. Niels und Family sind garantiert nachts los. Wie immer. Sogar nach Dänemark zu Oma fahren die nachts. Oder mit Oma Nive in den Harz. Zack! Mitten in der Nacht wird die Oma aus dem Bett gezerrt. Ich meine, bitte! In den Harz! Was gibt es da? Nur tote Tannen. Aber Margo und Niels finden es cool, nachts durch die Gegend zu cruisen. Ist klar.«

Jesses erste Reiseansprache, kurz und kryptisch. Einigermaßen erstaunlich fand ich, dass Niels’ ansonsten totgeschwiegene Schwester Margo plötzlich Erwähnung fand. Der Knopf wanderte zurück ins Ohr, die Schläfe sank wieder an die Scheibe. Die Regungslosigkeit wurde wiederhergestellt, und die Autobahn nahm kein Ende. Wie wunderbar musste es gewesen sein, hier über die Wiesen und Felder zu streifen, von Knick zu Knick, von Graben zu Graben, von einem Windschutz aus Bäumen zum nächsten, als es noch keine Autobahn gab, dafür aber eine grüne Ferne, so weit das Auge reichte. Im Grünen Heinrich schrieb Gottfried Keller von Vorbäumen des Waldes. Ich stellte mir Philipp Otto Runge vor, wie er von Elbe zu Weser wanderte und die Weite der Landschaft vielleicht mit der Weite in Pommern verglich, um für ein Gemälde über die Pracht der Schöpfung eine ganz eigene Weite erfinden zu können. 1810 starb Runge in Hamburg an TBC, der Schwindsucht, und ließ seine letzten Bilder zerschneiden. Richtig so. Zweihundert Jahre später hätte ihn angesichts dieser lärmerfüllten, grauen, das freie Land zerschneidenden Schneise der Schlag getroffen. Zumindest wäre er in Tränen ausgebrochen. Runge hätte sich gewundert, wäre am Autobahnrand stehen geblieben und hätte geweint. Und ich mit dem Jungen neben mir wäre an ihm vorbeigejagt.

4

Ich kannte Jesses Gedanken und Empfindungen bestimmt nicht sehr gut, und wir waren einander auch nicht gerade von Herzen zugetan, doch weil meine tote Schwester in ihm fortlebte, liebte ich ihn. Erst im letzten Jahr war mir klar geworden, dass es nicht richtig sein konnte, mich einzig um Iras willen um den Jungen zu kümmern. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich nur aufgrund dieser Erkenntnis bereit erklärt, ihn mitzunehmen.

Jesse hatte nie einen Vater gehabt. Er war dem Mann, der Ira irgendwo in Israel ein Kind gemacht hatte, nie begegnet und hatte auch zu keiner Zeit Gelegenheit dazu gehabt. Drei- oder viermal in fünfzehn Jahren hatte er sich bei Ira gemeldet,»der Mann aus Tel Aviv«, wie Jesse ihn spöttisch nannte. Sehen wollte er seinen deutschen Sohn nie, für ihn Unterhalt bezahlen ebenso wenig. Er hatte Ira das nötige Geld für ein Dach über dem Kopf zukommen lassen, und sie hatte davon für Jesse und sich das Haus in Wellingsbüttel gekauft.

Angeblich war er Arzt. Angeblich lebte er in Südengland, in Bournemouth. Angeblich hieß er Mati. Ira nannte ihn so. In den Monaten nach ihrem Tod hatte ich immer wieder über den Mann aus Tel Aviv nachgedacht. Ich war neidisch auf Mati. Er wusste weder, wie schlecht es Ira ging, noch dass sie gestorben war. Niemand setzte ihn von Iras Beerdigung in Kenntnis, und so konnte man es ihm auch nicht verübeln, wenn er an dem Tag nicht nach Ohlsdorf gekommen war. Neidisch machte mich nicht, dass er in Südengland lebte und als Arzt offenbar genug verdiente, um der Mutter seines Sohnes ein Haus zu kaufen. Neidisch war ich auf ihn, weil für ihn Ira noch immer am Leben war.

Niels hatte einen Vater. Seine Mutter hatte sich nicht in der eigenen Garage vergast. Frau Juhl lebte ihr Leben an der Seite eines Vogelkundlers, sie kümmerte sich um die Kinder und kümmerte sich in der kalten Jahreszeit um ein leerstehendes Hotel, damit ihr Mann draußen am Strand Kormorane und Austernfischer beobachten konnte. Ich kannte Niels zwar nur flüchtig, hatte ihn aber gleich gemocht. Äußerlich war er trotz seiner dunkelblonden Haare und hellblauen Augen Jesse ähnlich, der die grünen Augen seiner Mutter und Großmutter hatte. Niels wirkte reifer. Er war um Verbindlichkeit bemüht und auffallend höflich, was nach Ansicht meines Vaters daran lag, dass er Schwestern hatte. Während Jesse bereits in einer Welt rein digitaler Medien lebte, blätterte Niels noch mit fragender Miene in einer Zeitung. Wenn er etwas las, war er davon gebannt. Wenn man ihm Bilder zeigte, stellte er Fragen, schien die Fotos in Gedanken miteinander zu verknüpfen und wollte sich ein schon beiseitegelegtes noch mal genauer ansehen. Anders als Jesse, der mich oft gar nicht wahrnahm, obwohl ich seit einer Viertelstunde neben ihm auf dem Sofa saß, interessierte sich Niels schon deshalb für jemanden, der plötzlich in seinem Gesichtsfeld auftauchte, weil dieser Mensch womöglich anders dachte als er selbst. Meine Mutter, die nur mit Niels redete, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wurde einmal von ihm gefragt, ob sie die Bilder gezeichnet habe, die im Wohnzimmer hingen. Als Niels von meinem Vater erfuhr, dass ich die Zeichnungen in New York gemacht hatte, in Manhattan und Brooklyn, stand er lange davor, betrachtete sie aufmerksam und sagte irgendwann zu Jesse, an dieser Kreuzung, West Houston und Broadway, habe er mit seinen Eltern auch mal gestanden — was schon deshalb erstaunlich war, weil meine Zeichnung keinen Titel hatte und so durch nichts verriet, dass sie tatsächlich diese eine Kreuzung in SoHo darstellte.

Meine Mutter hielt den Jungen, der da beinahe täglich ins Haus kam und nicht selten mit ihnen zu Abend aß, für unaufrichtig. Für sie war der junge Juhl bloß raffiniert und verschlagen. Was auch immer er war, in ihren Augen war er bestimmt kein guter Einfluss. Die Weigerung meiner Mutter, ihre Dünkel zu begründen, führte zu der einzigen erbitterten Auseinandersetzung zwischen Jesse und ihr, von der ich wusste, und führte außerdem dazu, dass mein Vater nur umso stoischer darauf beharrte, dass sie Niels unrecht tat. Aber er mischte sich nicht ein, weder als meine Mutter Jesse mit einem Hausverbot für Niels drohte, noch als Jesse sie im Gegenzug mit stundenlangem Schweigen strafte. Als sie schließlich die Nerven verlor und ihn ankeifte und er sie daraufhin mit einem zweitägigen Liebesembargo aushungerte, stellte mein Vater bloß klar, dass er Niels mochte, und das nicht erst, seit er sich mit ihm im Hobbykeller einen Nachmittag lang über Modellflugzeuge, alte US-Bomber und Fliegerei im Allgemeinen unterhalten hatte. Mein Vater hielt Niels Juhl für ein ausgesprochen kluges Kerlchen, zudem für einen treuen Freund — eine Seltenheit.

In seinen Augen war es Niels’ Engagement zu verdanken, wenn Jesse in der Schule nicht den Anschluss verpasst und sogar im Mathe-Einserkurs hatte bleiben können. Geometrie hatte mein Vater schon immer für wichtiger als, zum Beispiel, Geografie befunden, nie aber war ihm ein Jungspund untergekommen, der das genauso sah. Im Verlauf mehrerer Abendbrotvorträge durfte ich miterleben, wie die Beweisführung meines Vaters, dass wir in einer berechenbaren Welt lebten, bei Niels zunächst Verblüffung, dann Euphorie und schließlich bedingungslose Zustimmung auslöste. Jesse dagegen gab sich alle Mühe, gleichgültig zu wirken, so gleichgültig, wie ihm Geografie und Geometrie waren, solange er in beiden Fächern gute Noten schrieb. Nachdrücklich, ja vehement, sonst gar nicht seine Art, setzte sich mein Vater dafür ein, Jesse seinen Wunsch zu erfüllen. Der Junge sollte seinen Kameraden in den Herbstferien besuchen dürfen, nur durfte man ihn nicht allein in die Normandie fahren lassen. Zwar dauerte es ein paar Wochen, bis meine Mutter mürbe geredet war, dann aber lenkte sie erst in der Querele mit ihrem Enkel und kurz darauf auch in der Meinungsverschiedenheit mit ihrem Mann ein und gab schweren Herzens ihre Zustimmung zu einer Ferienwoche an der nordfranzösischen Küste.