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Cambes lag südwestlich von Caen, mit dem Fahrrad war mir die Strecke zu weit. Für den Hinweg hätte ich zwei Stunden benötigt, und bei so starkem Seewind für den Rückweg bestimmt die doppelte Zeit. Aber ich wollte unbedingt noch einmal zum Gui.

Aus Sussex zog ein ausgedehntes Stück blauer Himmel heran. In der Küche putzte ich meine Schuhe, dann stellte ich sie in den Hof, und als ich eine Stunde später hineinschlüpfte, durchrieselte mich ein Glücksgefühl, weil die Sonne sie auch innen aufgewärmt hatte.

Ich fuhr nach Marigny, heiter und beschwingt vom Schnurren des Rads. Dort stellte ich es ab und wartete, während ich durch den Ort lief, auf den Bus. Kein Mensch war zu sehen, nur ein großer hellbrauner Hund trottete mir eine Zeit lang über die Straßen voller Schlaglöcher nach. Er erinnerte mich an Zeichnungen, die Carl Philipp Fohr von seinem Hund gemacht hatte, Grimsel, mit dem er über die Alpen bis nach Rom gewandert war. Lauter Spatzen badeten im Sand der eingetrockneten Pfützen. Und wenn sie aufstoben, weil erst ich und dann der Hund daherkam, sahen sie am Himmel wie Tagsterne, ein umgekehrtes Sternbild aus.

Der Bus brachte mich nach Bayeux. Dort stieg ich um in einen Regionalzug, der aus einem einzigen Waggon bestand, der kürzeste Zug, den es auf der Welt gab. Eine halbe Stunde später kam ich nach Caen. Am Bahnhof studierte ich den Stadtplan, dann lief ich immer nach Südwesten.

Es war ein schöner Frühnovembertag. Déjà l’automne! Ich kam nach Cambes und hörte schon von Weitem das Flüsschen durch den Ort rauschen. Irgendwo in den Nachrichten von Pegasus hatte McCoy Lee seinen Abscheu vor dem, was an der Brücke über den Gui passiert war, in Worte zu fassen versucht, wie der Schluss des Verses vom Verschwinden fiel mir aber auch Lees Formulierung von der Unmenschlichkeit des Krieges nicht mehr ein. Verschrotten von lauter jungen Leuten, denen erst die Jugend geraubt und schließlich das Leben genommen wurde … so ähnlich hatte ich es im Kopf. Die grünen Fische, die Cat so gefallen hatten, waren immer noch da. Ich stand auf der Brücke und sah hinunter zum Gui. Und für einen Moment sah ich im Licht auch wieder das fremde Mädchen mit dem Fahrrad stehen. Mein Rad hatte ich ihr zu verdanken, auf die Idee, das alte Gefährt wiederherzurichten, hatte sie mich gebracht, nur indem sie dort stand und Catinka, Niels, Maybritt und mir unschlüssig dabei zusah, wie wir, genauso ratlos, die Brücke untersuchten.

Die Iren der Ulster Rifles, dreiundfünfzig junge Männer, die meisten noch nicht zwanzig, hatten sich unter dem Brückenbogen verschanzt, inmitten freier Felder, über die die Tiger- und Marder-Panzer der SS-Hitlerjugend-Division vorrückten. Es war Anfang Juli. Manchmal hörte man das lächerlich wirkende Paff! einer abgeschossenen Granate, dann das bohrende Sirren, mit dem sie heranrauschte und eine dreihundertjährige Eiche in Stücke riss. Als die Einschläge immer näher kamen, entschied der ranghöchste Offizier, dass die Brücke nicht länger Sicherheit bot. Sie waren Infanteristen, teils schwer verwundet. Wer konnte, kroch durchs Wasser des Gui und robbte in das Rapsfeld, in dem man sie später alle entdeckte. Auch unter der Brücke, wo die Verwundeten zurückgeblieben waren, lagen nur Tote.

Unter der Brücke bildete sich jetzt eine wilde Müllkippe. Jemand hatte einen gusseisernen Herd und eine Palette mit halb leeren Farbeimern abgestellt. Es war weißer Lack, und in einem der Eimer steckte ein Pinsel, dessen Borsten noch nicht verkrustet waren. Mit ihm malte ich zwei Stunden lang unter der Brücke ein Bild von der Brücke auf ihr Mauerwerk, eine Mauer aus mal helleren, mal dunkleren Feldsteinen. Als es fertig war, schrieb ich darunter die drei Buchstaben von McCoy Lees und meinem Namen.

In einer Pension in einem Vorort von Caen verbrachte ich eine Nacht Wand an Wand mit britischen Fernfahrern. Einer von ihnen verfügte über ein unerschöpfliches Witzerepertoire und brachte stundenlang seine Kumpane und manchmal auch mich zum Lachen, ehe sich irgendwann die Stille durch den Dachstuhl senkte.

Zerschlagen machte ich mich nach dem Frühstück auf die Suche nach einem Farbgeschäft. Als ich keins fand, trat ich in einen menschenleeren Supermarkt und entdeckte dort eine Dose mit weißem Lackspray in einem Regal für Autobastler. Die Kassiererin war so freundlich, wie sie rundlich war. Ich fragte sie, wo der Bus nach Bénouville abfuhr, und sie zeigte es mir, indem sie mit mir vor die Tür ging. Kurz darauf sank ich auf einen schaukelnden Sitz und schlief auf der Stelle ein.

Der Bus hielt direkt am Memorial Pegasus und fuhr dann Richtung Küste weiter. Auf dem verlassenen Parkplatz fror ich zum ersten Mal und verfluchte mich selbst, weil ich meine Strickjacke weggegeben hatte. Um mich aufzuwärmen, hastete ich hin und her über das Gelände. Mir fiel auf, dass die Glasfassade des Dokumentationszentrums einem Horsa-Gleiter nachgebildet war. Mein Vater hätte sich mit Kommentaren überschlagen, weil hier gleichzeitig der Fliegernarr und der Architekt angesprochen wurden. Ich drehte ein paar Runden um die Brücke und sprintete dann über die Steintreppe zu den Teichen hinauf. Rehe standen äsend am Rand der Lichtung und ließen sich nicht stören. Ich sah mir alles noch einmal an. Wunderbar — die Wiederholung ließ mich aus mir heraustreten. Ich sah mich gehen, wurde wirklich Betrachter. Gelassen sah ich alles mit anderen Augen, auch mich.

Ein schulterhoher, begraster Erdwall umgab die alte Pegasusbrücke. Stufen führten inwändig zu einem Betonkreis hinunter, den die Brücke überspannte. Ich ging unter ihr hindurch und sah auf der weißen Stahlwand die Graffiti und Kritzeleien, von denen Kevin geschwärmt hatte. Daten waren in den Lack geritzt, die bis in die Achtzigerjahre zurückreichten, die meisten auf Englisch, von Amerikanern, Briten, Kanadiern, Neuseeländern. Wo er abblätterte, fühlte ich mit den Fingerkuppen über den Lack und spürte die Kanten dutzender Schichten, in denen seit Kriegsende immer wieder Farbe aufgetragen worden war. Alle Namen und Kommentare, die älter als dreißig Jahre waren, hatte man getilgt. Es gab keinen Hinweis auf einen Besucher vor dem Sommer 1980.

Ira war in diesem Sommer mit einer Schulfreundin in Südengland gewesen, auf Sprachreise in Bournemouth. Ich hatte die Ferien zu Hause verbracht, hatte mich nach ihr gesehnt und ihr Briefe geschrieben und Kassetten aufgenommen, bis unsere Eltern mein Gejammer satthatten und mit mir nach Fehmarn fuhren. Zwei Wochen lang zeichnete ich dort, was ich vor mir sah, egal, womit und worauf. In den von Scheinwespen wimmelnden Dünen des Grünen Brinks auf Fehmarn kam ich mir wie eine Insel in einem absurden Ozean vor und bejubelte alles, was ich malte, weil es mich davon überzeugte, dass ich tatsächlich vorhanden war. Als Ira zurückkam und plötzlich fließend Englisch sprach, nähte sie mir aus einem alten Trenchcoat unseres Vaters eine Weste, wie Joseph Beuys sie trug, mit bestimmt dreißig Taschen für Fundstücke, Zettel, Stifte, Notizen.

Ich kletterte auf den Erdwall. Von oben konnte man über das Geländer hinweg auf die Brückenplatte spähen, doch da war außer Stahl und schmutzigem alten Lack nicht viel zu sehen. Ich war enttäuscht, weil sich nicht augenblicklich ein wuchtiger Eindruck einstellte. Alles wirkte vorbereitet. Rote Papppfeile steckten in Zellophantüten und deuteten auf eine Handvoll Einschusslöcher, die von etlichen Lackierern in den letzten siebzig Jahren für nicht der Rede wert erachtet und überpinselt worden waren. Die Längsseite der Brückenplatte lag in Reichweite, sie war schmal, dafür lang, über zehn Meter weiße Fläche. Darauf sprühte ich die Brücke, wie ich sie mir vorstellte. Sie stand wieder am Ufer. Sie führte wieder über den Kanal. Und der Hügel hatte noch keine Teiche, sondern wieder einen See und war arschnackt. Ich behielt den Parkplatz und die Kieswege im Auge, während ich sprayte, aber es kam die ganze Zeit kein Mensch. So verging eine Stunde, in der meine Hände vor Kälte violett anliefen und ich froh war, dass ich nur die eine Dose Lack hatte.