Выбрать главу

Erst aus einiger Entfernung konnte man die Zeichnung erkennen. Der Lack war etwas heller als der der Brücke, und sehen ließ sich meine Pegasusbrücke ohnehin nur, wenn man die weißen Linien und Punkte auf dem etwas dunkleren Grund nicht für Geschmiere oder Ausbesserungen hielt.»Vous n’êtes pas gentil, Monsieur«, sagte ich laut zu mir selbst, als über den verwaisten Parkplatz der Wind fegte, und ich versprach mich nicht mal dabei.

6

An einem der folgenden Weißweinabende überkam mich eine nicht zu bändigende Lust, mit Annik zu schlafen. Vor allem ihre Wimpern malte ich mir so nah vor meinen Lippen aus, dass ich das Silber von ihnen hätte ablecken können. Am nächsten Morgen rief ich beim Schrottplatz an, sprach kurz mit Didier Flaubert und dann mit ihr. Ich lockte sie ins L’Angleterre, und dort verführte ich sie oder versuchte es wenigstens. Denn es gelang nicht. Annik roch den Braten, sie hatte ihn schon durchs Telefon gerochen.

Wir spielten Billard, und sie gewann. Wir spielten noch mal, und sie gewann wieder, noch deutlicher. Die dritte Partie brach ich ab, als sie absichtlich schlecht spielte und es trotzdem unentschieden stand. Ich sank in den Sessel und griff nach der kühlen Flasche. Annik kam um den Tisch, setzte sich auf meinen Schoß, ich staunte, wie schwer sie war, nahm die Flasche, trank, dann küsste sie mich, küsste mich drei- oder viermal zärtlich und nicht flüchtig. Dabei sah sie mich an, und das hieß nichts Gutes.

Sie nahm meine Hand, legte sie auf ihre Brust und hielt sie so fest.

«Was spürst du?«

Sagen konnte ich nichts, ich war ganz Hand.

Und Annik sagte:»Du spürst ein Geheimnis.«

Wir wärmten uns Ravioli aus der Dose auf und tranken dazu noch eine Flasche von dem 1996er Sancerre. Wir lachten. Wir hörten Joy Div und aßen Birnenkompott. Ich erzählte von der Pegasusbrücke und dass ich mich gefragt hatte, wie lange die Flauberts wohl brauchen würden, bis sie die Brücke ratzekahl abgetragen und verschrottet hätten. Annik lachte noch immer — obwohl ihr die alte Brücke am Herzen lag. Ihre Großeltern, die Eltern ihres Vaters, lebten in Bénouville. Mit ihrer Mamie war sie als kleines Mädchen oft über den Caen-Kanal spaziert.

«Sich auflösen, verschwinden, und am Schluss / Vergessen, was im Laubwerk dich nie stört, / Die Qual, das Fieber und den Überdruss, / Hier wo ein jeder jeden stöhnen hört«— so ging der Vers weiter, mit Anniks Smartphone kriegten wir es leicht raus, auch dass er von Keats war.

Wie der alte Flaubert machte sie» Paff!«, als sie die Strophe gelesen hatte.

Sie stammte aus der» Ode an eine Nachtigall«. Die Nachtigall saß in der Baumkrone, wusste nichts von Miseren und Fiaskos, sondern sang. Annik mochte den Vers, auch wenn Gedichte und Vögel nicht ihre Welt waren. Wir verabschiedeten uns um drei Uhr morgens im Bad und verbrachten die Nacht in zwei angrenzenden Zimmern, sie einem dunklen, ich einem hellen. Jeder hatte seine Geheimnisse, und jeder behielt sie für sich. Sie hatte gut daran getan, mir eine Abfuhr zu erteilen. Ich hatte gar nicht sie gemeint, und Annik war einfühlsam genug, das zu spüren. Maybritt wäre stolz auf sie gewesen.

In Bayeux setzte sie mich an der Kathedrale ab. Ich gab ihr das Foto, und sie versprach, es Séverine Laudec in den nächsten Tagen vorbeizubringen. Wir sagten adieu, tauschten einen hastigen Kuss, damit es endlich vorbei war, und sie fuhr los.

Eine Weile drückte ich mich noch zwischen den eben erst öffnenden Läden herum, dann aber hielt ich es nicht länger aus und lief zum Bahnhof.

Eine Viertelstunde lang stand ich zwischen einem stählernen Pfeiler und einer viergeteilten Abfalleimerbox und hielt die Fahrkarte in der Hand, ohne mich entscheiden zu können, ob ich sie wegwerfen sollte. Ich zählte acht Männer und Frauen in diesen fünfzehn Minuten, die sich vermeintlich absichtslos näherten, stehen blieben und leicht vornübergebeugt in die Müllbehälter spähten. Keiner nahm etwas heraus. Suchten sie nach Pfandflaschen? Oder hatte ich mir das nur weismachen lassen? Ein junger Kerl drehte sich unvermittelt zu mir und bat um eine Zigarette. Zum ersten Mal fiel mir ein, dass ich nicht mehr rauchte, schon spürte ich ein unbändiges Verlangen nach Tabak.

«Cigarette?«, fragte er noch mal, und kurz klang das wie» bicyclette«, sodass ich an das Fahrrad dachte, das noch immer in Marigny an dem Bushaltestellenhäuschen lehnte. Ich machte eine Nichtrauchergeste, die der Junge zum Lachen fand. Er fragte nach einem Euro und erklärte mir auf Englisch, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Ich glaubte ihm jedes Wort. Ich gab ihm zehn Euro, und als er verblüfft vor mir stehen blieb, gab ich ihm noch zehn, und dann noch einmal zwanzig, bevor ich mich abwandte und schnell davonging, weil ich ihm sonst mein ganzes Geld gegeben hätte.

Als der Zug Bayeux verlassen hatte, wurde er schneller und nahm immer mehr Fahrt auf, bis er durch weite, von nichts als struppigem Gras bewachsene Felder fuhr. Den Bahndamm säumten Kopfweiden. Am Stamm einer halb kahlen Birke sah ich einen großen Grünspecht sitzen, den ersten freien in meinem Leben. Ich nahm mir vor, bis Cherbourg nichts zu tun, als aus dem Fenster zu sehen und die wenigen Leute zu beobachten, die mit mir in dem Waggon saßen und unterwegs waren zu Orten, die ich nicht kannte. Immer noch spürte ich an der Hand die Stelle, an der mich der Junge mit seinen nikotingelben Fingern berührt hatte — am Handrücken, auf dem Daumenballen — , doch ich war nicht mehr angewidert davon, nur noch erschüttert von meinem maßlosen Ekel. Ich sah meinen Nachbarn in der Rambachstraße vor mir, dessen Finger genauso gelb waren. Schön waren sie gewesen, die Jahre, die wir nebeneinander hergelebt hatten, der Kiffer und der Kritzler. Aber jetzt waren sie vorbei. Gäbe es die Möglichkeit, jemandem mitzuteilen, was man für ihn empfand, ich hätte die Chance genutzt und ihm mein Herz ausgeschüttet. Leicht fühlte ich mich, fast schwerelos. Fast als wäre ich die Schwere los! Ohne dass es mir etwas bedeutete, war ich in dem Zug seit Urzeiten wieder einmal glücklich, und als ich es merkte, erschrak ich.

Eine Zeit lang saßen schräg gegenüber zwei Jungs in Jesses und Niels’ Alter und schwatzten munter drauflos. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Ein Mädchenname — Coralie — fiel immer wieder. Was mit Coralie los war, blieb mir ein Rätsel. In Jesses Klasse hatten mehrere Mädchen Drogenprobleme. Eine Klassenkameradin war wegen Prostitution von der Schule abgegangen, aber nicht Eltern oder Lehrer hatten sie dazu genötigt, sondern sie war auf einer Schüler-Onlineplattform so lange verunglimpft worden, bis sie von sich aus die Schule gewechselt hatte. Als die beiden Jungs ausstiegen, blieben sie auf dem Bahnsteig stehen und starrten so regungslos auf ihre Handys, als wäre ihnen über Facebook bedeutet worden, sich erst wieder zu bewegen, wenn der Mittagszug nach Cherbourg abgefahren war.

Hätte ich eine weitere Spraydose gehabt, vielleicht wäre ich selbstvergessen darangegangen, auf die Sitze zu sprühen, was ich vor den Fenstern sah. Der Zug fuhr an einer Fabrik vorbei, auf deren Höfen und Parkplätzen kein Mensch zu sehen war. Wohin waren alle verschwunden? An einer Tankstelle standen Fernfahrer vor ihren von toten Insekten geschwärzten Zugmaschinen und rauchten. Mit einer zusammengerollten Zeitung hieb einer seinem Nebenmann in den Nacken, und der Geschlagene lachte und warf die Arme in die Luft. Fahrt, dachte ich, fahrt los und verschwindet! Über ein Feld lief ein Fuchs. Lauf, dachte ich, lauf!

Bei Montmartin-en-Graignes verließ ich Calvados und fuhr über die Vire ins Département Manche. Irgendwo an dieser Grenze gab es eine Reihe Brücken, die ich für Kevin hätte zeichnen sollen. Ein silbergrau schimmerndes Band, das in weiten Bögen aufs Meer zulief — wie in einem Gemälde von Sisley kam mir die Vire und kam ich mir selbst vor, als der Zug über die Brücke rollte. Wenig später hielt er in Carentan. Aber man sah nicht viel von dem Städtchen, in dem Anniks Liebhaber wohnte. War sie je hier gewesen und hatte herauszufinden versucht, wie Serge lebte? Vielleicht arbeitete er am Hafen, in einem der zu Büroglaskästen umgebauten Speicherhäuser. Dutzende Eisenbahnergärten lagen längs der Gleise und erstreckten sich bis zu den Flussauen hinunter. Von Carentan waren 1944 nur Schuttberge übrig geblieben. Deutsche Panther- und Tiger-Panzer schossen die Häuser zu Klump, in denen sich alliierte Fallschirmspringer verschanzten, Steven Spielberg hatte es in Der Soldat James Ryan nachzustellen versucht. Auf dem Bahnsteig stand eine Gruppe kleiner Kinder mit zwei Erzieherinnen und wartete, dass der Zug hielt. Unter ihnen war vielleicht auch Serges Tochter oder sein kleiner Sohn. Es wurde laut in dem Waggon, die Kinder schnatterten und plapperten, und die zwei Frauen versuchten, die Meute zu einem Lied zu animieren, um von der allgemeinen Aufregung abzulenken, gaben es aber bald auf. Vielleicht war eine der beiden Serges Frau.