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Der Zug fuhr durchs Marschland des Parc des Marais. Die Größe des Himmels ließ die Meernähe erahnen, und auch die Häuser duckten sich tiefer und tiefer unter dem Wind und ballten sich zu immer kleineren Siedlungen. Die beiden Frauen, ihre Kleinen und ich erreichten Valognes. Kinder und Erzieherinnen stiegen aus. Mit einem Mal war es so still, dass ich mir selber leer vorkam. Ich wünschte mir den Lärm zurück, das Lachen und Singen, und weil sich nichts davon wiederherstellen ließ, riss ich wenigstens das Klappfenster auf.

Im Bahnhof von Cherbourg-Octeville blieb ich verwirrt im Waggon sitzen, weil ich nicht gewusst hatte, dass die Stadt inzwischen einen Doppelnamen trug. Ein Schaffner ging durch den Zug, schon von Weitem rief er mir zu, hier sei Endstation. Froh, nicht allein zu sein, stieg ich mit ihm aus. Für sein schmales Gesicht hatte er einen gewaltigen Schnauzbart. Mit wippendem Bart zeigte der Schaffner zu einem Ausgang unterhalb einer großen Uhr. Dort ging es zum Hafen, zu den Englandfähren und Fährbüros. Es war halb zwei, der Schweiß brach mir aus.

Ich beruhigte mich, als ich ins Freie kam. Die Sonne schien — und wie sie schien! — , und ein leichter Wind wehte, der sich mild anfühlte und mir durch und durch ging. Landeinwärts lag die dichte Wolkendecke, unter der ich bis nach Cherbourg-Octeville gefahren war, aber unmittelbar über der doppelten Stadt und dem grüngrau hereinrollenden Meer stand wie die letzte Spur eines Altweibersommers der leuchtend hellblaue Himmel. Boote tuckerten über die Reede, Kutter und Jachten, einige nahmen Kurs auf die offene See. Über die Mole spazierten Leute in Ölzeug oder mit Ölzeug über dem Arm, und hinter ihnen, noch weit draußen wie mitten auf dem Ärmelkanal, sah ich eine große Autofähre, die auf die Hafeneinfahrt zuhielt und deren Bugwelle verriet, mit welchem Tempo sie näher kam.

Eine in der Sonne golden schimmernde Häuserzeile stand an der Hafenpromenade. In einem der Gebäude war in den oberen Etagen das Supermanche-Fährbüro untergebracht. Unschlüssig ging ich so lange vor den Häusern auf und ab, bis ich das Gefühl hatte, unangenehm aufzufallen. Gegenüber dem Hauseingang setzte ich mich in ein kleines Café auf dem Kai. Ich bestellte Café au lait und Brioche, sagte außerdem nur Bonjour, und dennoch sprach der Kellner sofort Englisch mit mir. Ich verschlang das pappige Gebäck, trank den angebrannt schmeckenden Kaffee und behielt den Eingang im Auge.

Manchmal kam jemand aus dem Haus, Männer mit Sakko, Frauen im Hosenanzug, fast alle trugen einen Trenchcoat. Einige blieben vor dem unwirklich golden leuchtenden Gebäude stehen und rauchten. Eine junge Frau stand allein auf dem Trottoir und steckte ihr Haar hoch. Die Mantelärmel spreizte sie dabei vom Körper ab, als hätte sie Flügel. Außer ihr gab es niemanden, der nicht sein Handy zückte und telefonierte oder wenigstens auf dem Display etwas las. Die immergleiche Bewegungsabfolge erschien mir in dem Goldschimmer ängstlich, wie von der Furcht eingegeben, man könnte verlorengehen und keiner würde es bemerken. Kappen, dachte ich, kappen! Enttäuscht beobachtete ich, wie auch die Frau mit den Mantelflügeln ihr Telefon hervorholte und sich ans Ohr hielt, weil jemand sie anrief.

Überall standen die Leute in der Gegend herum, als würden sie den Verdacht nicht los, dass nichts und niemand mehr zu irgendetwas anderem gehörte. Eine gut versteckte Besorgtheit war jedem ins Gesicht geschrieben, in einem Pfeilerspiegel sah ich sie auch mir an. Dass ich mir keine Illusionen mehr machte, hieß nicht, dass ich eine Ausnahme bildete. Mit voller Wucht merkte ich wieder, dass ich von allem abgeschnitten war, und auch deshalb freute ich mich in dem Hafencafé wie ein vor Aufregung zappeliges Kind, hierhergekommen zu sein, um einen Menschen zu sehen, der nichts von mir oder nur meiner Anwesenheit in seiner Stadt wusste.

«Donnez-moi une pièce du papier et un stylo, s’il vous plaît«, rief ich quer durch den Raum dem Kellner zu, der hinter dem Tresen stand und etwas zu lesen schien. Hartnäckig blieb er dabei, Englisch mit mir zu sprechen, als er schließlich Papier und Stift brachte. Ich beschloss, jede Kommunikation mit ihm einzustellen, klemmte einen Geldschein unter die Tasse und schob das Gedeck beiseite. Dann fing ich an zu zeichnen.

Ich zeichnete das Haus, die Nebenhäuser, die im Licht flirrenden Fenster, die jungen Männer, die rauchend vorm Eingang standen und verzweifelt mit wem auch immer in Verbindung zu bleiben versuchten. Zuletzt zeichnete ich die gläserne Eingangstür zum Fährbüro, die sich darin spiegelnde Hafeneinfahrt, die Mole, die Boote, die vorüberspazierenden Leute. Aber sosehr ich mich anstrengte und sie herbeizuzeichnen versuchte, eine Frau, die meiner Schwester glich, kam nicht heraus. Irgendwann stand ich auf, ließ alles liegen und ging.»See you!«, rief der Kellner mir nach, und ich war überzeugt, er meinte das als Drohung. Ich machte, dass ich an die frische Luft kam, rüber zur Mole, runter zu den Schiffen und Möwen, nur weg von dem Fährbüro, vor dem ich noch Stunden gewartet hätte. Keine Macht der Welt würde mich dazu bringen, dort hineinzugehen.

7

Die Ebbe kam. So blau die Reede funkelte, so grün sah das fallende Wasser aus, als ich auf der Pier stand und hinunterblickte. Schnell ebbte es weg, glucksend im Pfahlwerk, an dem die Autofähre festgemacht hatte, und unterspülte ihr Heck. Über den Zement der Pier flimmerten Spiegelungen von der Seitenwand des Schiffs, und ausgediente Traktoren- und Lastwagenreifen hingen dort und dienten als Fender, die schwarze Ringe auf das dunkle, fast schwarze Grün des Wassers warfen.

Eine Weile stand ich so da, ohne auf die Leute zu achten, die von der Fähre an Land gingen, und blickte fasziniert in die verebbende Tiefe. Jenseits des Hecks schwebten, angezogen von dem Unrat, den die Fähre hervorwirbelte, große Fische in der ablaufenden Strömung, lang, dünn, so grün wie das Wasser und mit schleiernder Schwanzflosse. Wie merkwürdig, dass sie weder näher kamen, um zu fressen, noch weiterschwammen. Die Fische standen bloß da, ließen die Flossen schleiern und schienen zu warten.

Sie trug einen Helm, orangegelb leuchtend wie das Fruchtfleisch einer Papaya. Das Erste, das mir an ihr auffiel und sich mir ins Bewusstsein brannte, war nicht ihr Gesicht. Weder ihre Haltung oder Kleidung noch ihre schmale Statur war es, sondern dieser Helm mit dem dunkelroten Schriftzug darauf: KITTY. Er war das Einzige, das mich nicht an Ira erinnerte.

Sie lehnte am Geländer der Rampe, über die Autos und Lastzüge mit meist britischem Kennzeichen von der Fähre rollten, und unterhielt sich mit zwei Arbeitern in hellblauen Overalls, einem jüngeren, einem älteren, die ebenfalls Sicherheitshelme mit der Aufschrift KITTY trugen, und sie wirkte wie eingekapselt in das Gespräch, wohl weil sie dessen Mittelpunkt war. Sie schien völlig unbehelligt vom Gellen der Möwen im Licht des so überraschend schönen Tages, vom Glitzern des Wassers und von den von Bord strömenden und ihre Mountainbikes an Land schiebenden Leuten. So stand sie da. So sah ich sie zum ersten Mal. So sehe ich dich also wieder, dachte ich, in Cherbourg am Ärmelkanal, mitten im Leben stehst du, mit zwei fremden Kerlen lachst du über irgendwas!