Выбрать главу

Mit was für einem Leuchten im Blick. Du hast mir so gefehlt, ich kann dir gar nicht sagen, wie.

Sie sah nicht aus, wie meine Schwester aussah, kurz bevor sie alles losgelassen hatte. Lilith sah aus, wie Ira vielleicht ausgesehen hätte, wenn sie nicht vom Leben, ihrem Körper, ihren Ansprüchen, ihrer Untauglichkeit und der Unfähigkeit ihrer Familie aufgerieben und zugrunde gerichtet worden wäre. Wo die Pier begann, standen auf der Mole Bänke, auf eine setzte ich mich, stützte das Gesicht in die Hände, und als ich das Weinen hinuntergewürgt hatte, sah ich der so vertrauten Fremden dort an dem Fährschiff fassungslos zu.

Sie war in etwa so alt wie Ira, so groß wie Ira, so schlank, so fein, so herb, so reizend, so sehr Frau und dabei noch immer das Mädchen von irgendwann mal, wie auch Ira es gewesen war oder gewesen wäre, hätte sie sich nicht vollpumpen müssen mit Medikamenten und wäre nicht, vor Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren, hysterisch und panisch geworden, wäre nicht abgemagert und aufgedunsen in einem, hätte sich nicht gehenlassen, wäre nicht ungepflegt, stumm, mitleidlos allem und sich selbst gegenüber zu dem geworden, was sie wurde, ein verkümmerter Rest dessen, was wir kannten und liebten, ein bisschen Schwester, ein bisschen Mutter und Tochter, dann nur noch ein bisschen eines Bisschens.

Wie sie selbst verkümmerte, ließ sie alles in ihrer Umgebung verkümmern. So war sie erst Freunden und Freundinnen, dann unseren Eltern, mir, Jesse und zuletzt auch sich selbst abhandengekommen. Wie war das möglich, dachte ich auf der warmen Bank über dem blinkenden Wasser. Wie kann es sein, dass so etwas überhaupt geschieht. Durch nichts und niemanden war es wiedergutzumachen.

Dann sah ich, dass sie sich in Bewegung setzte, und war so erstaunt von der Natürlichkeit, mit der Lilith lachte und zugleich die Hände in die Anoraktaschen schob, dass ich aufsprang. Ich wandte das Gesicht zur Seite. Sie kam die Rampe herauf. Ich kehrte ihr den Rücken zu, die Augen zusammengekniffen, nur um sie im nächsten Moment weit aufzureißen, überzeugt, ertappt oder zumindest erkannt worden zu sein.

Aber sie ging einfach vorbei. Zusammen mit den beiden hellblauen Arbeitern schlenderte sie in einem Tross aus Frauen und Männern in Borduniform oder Overall langsam über die Pier in Richtung Stadt. Die Crew der Kitty, wie das Fährschiff offenbar hieß, ging in die Mittagspause, so sah es aus, und auch ich hatte auf einmal ein Gefühl von unverhoffter Unterbrechung, von Pause in der mich auslaugenden Anspannung. Ich wartete eine Weile, dann folgte ich dem Pulk. Lilith hatte den Helm abgesetzt und hielt ihn schlenkernd am Kinngurt. Sie schüttelte ihr Haar. Sie trug es offen. Sie war blond wie Ira, bevor sie sich die Haare schwarz gefärbt und abgeschnitten hatte bis auf die Sichtschutzsträhne, und sie trug sogar ähnliche Jeans, dazu allerdings Sicherheitsstiefel. Einmal blickte sie über die Schulter die Pier entlang, und weil ich diesen Blick kannte und wusste, dass er viel mehr sah, als man meinte, tat ich, als wäre ich Vogelbeobachter, ein Seemöwenfreund.

8

Ich folgte der kleinen Gruppe am Wasser entlang, dann hinein in die Straßen und Gassen des Hafenviertels. Sie waren zu acht, fünf Männer, drei Frauen. Ich nahm an, sie würden ein Bistro ansteuern, um dort zusammen zu Mittag zu essen, täuschte mich aber. Von Straßenecke zu Straßenecke wurde das Grüppchen kleiner. Einer verschwand in ein Geschäft, eine junge Frau blieb an einem Taxistand stehen. Sie winkte den anderen zu, und ich ging vorbei und sah ihr an, wie sie alles vergaß und nachdenklich wurde. Ihre Jacke hatte über der Brust einen Aufnäher: KITTY.

Die beiden Arbeiter traten tatsächlich in ein Bistro. Die restlichen vier schlenderten weiter, durch eine Gasse zu einem von Wohnhäusern umstandenen Platz, auf dem Markt war, kleiner und längst nicht so überlaufen wie der in Bayeux. Zwischen den Ständen verlor ich die Gruppe aus den Augen, sah sie dann aber nur wenige Meter entfernt stehen, Lilith in eine gestenreiche Unterhaltung mit einem an seinem Hörgerät herumnestelnden Obstverkäufer vertieft.

Die zwei Männer, der eine in Uniform, der andere im Overall, vielleicht ein Maschinist, verabschiedeten sich und gingen weiter. Lilith kaufte Trauben und zwei Birnen. Sie legte das Obst in ihren Helm. Die andere Frau rief dem alten Händler lachend etwas zu.

Ich folgte ihnen durch stille Wohnstraßen und über Plätze, auf denen Alte unter kahlen Bäumen saßen, und ich beobachtete, wie sich die beiden, seit sie allein waren, fast unentwegt unterhielten.

Wenn die Straße anstieg, blieben sie hin und wieder stehen. Ich gab mir Mühe, wie immer auszusehen, und verzweifelte, weil mir auch selbst alles an mir auffiel. Die Frauen unterhielten sich weiter, wandten sich schließlich wieder zum Gehen, und auch ich setzte die lächerliche Beschattung fort und beschleunigte die Schritte, sobald die beiden um eine Ecke bogen, hinter der für mich eine Eiswüste liegen konnte.

Mit einem Mal aber war sie allein. Auf einer Treppe, die einen dicht überwachsenen Hang hinaufführte, sah ich nur noch sie. Durch das Laub der Sträucher leuchtete der gelbrote Helm, den sie als Obstkorb benutzte. Wohin ihre Freundin oder Kollegin verschwunden war, blieb ein Rätsel. Auf der Straße, dem Trottoir, in dem Garagenhof am Fuß des Hangs — niemand. Es musste Geheimgänge durch diese Büsche geben, Schleichwege, die den Besatzungsmitgliedern der Fährschiffe seit der Kindheit bekannt waren. Die verschlungenen, überwucherten Notausgänge der Kitty. Ich wollte keine Notausgänge mehr. Endlich einen Noteingang! Ich folgte Lilith, stieg die Stufen hoch und spürte, ohne mich umzudrehen, im Rücken das Meer.

Oberhalb des Hangs lag unter noch belaubten Bäumen eine stille Straße, und gegenüber dem Treppenaufgang begann ein Park. Nur Lilith war zu sehen. Am Eingang blieb ich stehen und beobachtete, wie sie auf einen Brunnen in der Mitte mehrerer sternförmig ineinanderstrebender Wege zuhielt. Sie legte den Helm auf den Brunnenrand. Unter dem plätschernden Wasserstrahl wusch sie das Obst.

Ohne Eile bog sie in einen Seitenweg, sodass ich sie aus dem Blick verlor. Doch der Park schien nicht sehr groß zu sein. Unter dem eiskalten Wasserstrahl wusch ich mir die Hände und trank einen Schluck. Und jetzt? Was machst du, fragte ich mich, wenn sie sich auf eine Bank setzt. Setzt du dich zu ihr, siehst zu, wie sie isst?

«Pardon, aber Sie sehen aus wie meine tote Schwester.«

Was hatte ich mir davon versprochen, einer Wildfremden so nachzulaufen? Ich erinnerte mich nicht. Doch, du erinnerst dich. Nur sehen, wie sie sich bewegte, wollte ich, bloß weiter so staunen können, weil sie am Leben war. Sie lachte, kaufte Früchte, debattierte mit einer Bekannten, beugte sich über einen Brunnen, bog ab in einen Seitenweg. Auch ich bog in den Seitenweg. Er war leer, ein Pfad durch Rhododendren. Dahinter lagen Wiesen, mit Trauerweiden und Rotbuchen. Abzweigende Wege, leere Bänke. Krähen flogen umher, Dohlen, wie Löcher im Tag. Ab und zu tauchte eine alte Dame auf, mit traurig grüßendem Blick tippelte sie vorbei. Ich bin auch traurig! Eine Schwangere schob eine Kinderkarre, telefonierte, während das Kind schlief. Schlaf weiter! Ein kleiner weißer Hund flitzte in aberwitzigem Tempo einmal quer über den Rasen und schien zu keinem zu gehören und zu niemandem unterwegs.»Ja!«, rief ich stumm.»Lauf irgendwohin, nur lauf!«

Ich sah sie nicht mehr. Plötzlich war der Park ganz verlassen. Mit dem in die Büsche getauchten Hündchen waren alle verschwunden, so wie die nachmittägliche Spätherbstsonne, vor die sich immer dichtere Wolken schoben. Der Pfad führte zu einer Fahrradsperre, hinter der erneut eine wenig befahrene Straße lag. Unter Platanen sah ich eine Bushaltestelle, dort warteten Leute, und dort stand auch sie, aß das Obst aus dem Helm und wartete auf den Bus. Um mir nichts anmerken zu lassen, überquerte ich ohne Zögern die Straße, stellte mich zu den anderen, tat, als würde ich gleichfalls warten, wartete ja, wusste nur nicht, worauf, und sah ihr durch die Glasscheibe des Haltestellenhäuschens zu, wie sie die zwei Birnen aß.