Ich ging zur Tür, ich sehnte das Stoppen des Busses, die aufgehenden Türen herbei. Noch einmal drehte ich mich zu ihr und fand sogar den Mut zu einem Lächeln. Endlich hielt der Bus. Die Tür ging auf.
«Gute Nacht«, sagte sie, zwei Wörter anstatt eines traurigen Achselzuckens.
Die folgenden Stunden verbrachte ich in einem besinnungslosen, manchmal schmerzhaft wachen Taumel. Auf der Suche nach der Haltestelle, wo der Bus zurückfuhr, irrte ich eine Einkaufsstraße entlang, deren Läden schon alle stockfinster und verrammelt waren. Es nieselte. In einem Vorgarten saß unter einem Forsythienstrauch eine kleine weiße Katze. Sie sah mich so verloren an, als erkannte sie ihresgleichen.
Ich beschloss, etwas zu essen, ehe ich ein Taxi zum Bahnhof nahm. Ich schlürfte eine Miso-Suppe, aß Reis, etwas Fisch, aber wo? Keine Erinnerungen an ein Gesicht, einen Tisch, das Lokal. Versuche, mich zu sortieren, verwirrten mich nur noch mehr. Ich wurde aufgezehrt vom Verlangen nach einer Zigarette, merkte aber in meiner Zerfahrenheit immer deutlicher, wonach ich mich wirklich sehnte, war nicht kalter Rauch, sondern Wärme und Nähe. Eine Zeit lang zeichnete ich, wahrscheinlich in dem asiatischen Lokal oder Imbiss und vielleicht nur mit der Spitze eines Stäbchens auf die Tischdecke. Ich zeichnete die Hand, die so warm gewesen war. Aber auch dieses Blatt — wenn es denn eins gab — ließ ich liegen, unbekannt, wo.
Schon saß ich im Taxi. Wer hatte es gerufen? Die Fahrerin hörte Radio, Berichte vom Konflikt zwischen Japan, China und Taiwan um eine Gruppe felsiger Inseln im Ostchinesischen Meer. Du bist selber eine Felseninsel, dachte ich, unbewohnt, uneinnehmbar. Und weinte im Dunkeln auf dem klebrigem Rücksitz, als wieder das Chanson von Babet gespielt wurde.
Über Nacht in Cherbourg zu bleiben, kam für mich nicht in Frage. Plötzlich stand ich wieder in dem Bahnhof und blickte hinauf zu der großen Uhr. Es war halb neun. Sieben Stunden vergangen! Plötzlich saß ich wieder im Zug. Und mit einem Mal empfand ich alles, was passiert war, als unsagbar peinlich.
Ich schämte mich für alles, was in den vergangenen zwölf Monaten geschehen war, schämte mich für meine Eltern und ihre Fühllosigkeit, schämte mich aber vor allem für mein Unverständnis ihnen und Jesse gegenüber. Der Zug fuhr durch die Nacht. Ich kam wieder durch Carentan. Ich stellte mir Annik mit Serge vor, wie sie am Strand entlangliefen und im Schutz einer Düne miteinander schliefen. Ich schämte mich für Serge.
Und ich stellte mir Jesse mit Margo vor, wie sie im Sand derselben Düne rangelten und irgendwann erschöpft voneinander abließen und in den Nachthimmel blickten. Ich sah Jesse in seinem Jugendzimmer vor mir, in dem Haus, in dem er mit seiner Mutter gewohnt hatte und das einmal sein Haus und nicht mehr das seiner Großeltern sein würde. Mit Niels lag er auf dem Fußboden, sie hörten Musik. Unten im Erdgeschoss saßen meine Eltern, sahen fern oder hatten Freunde zu Gast, DeWitts vom Bodensee, Lewandowskis, mit denen sie über den Jungen redeten. Es klingelte, und Jesse kam die Treppe runtergesprungen und öffnete, machte im festen Glauben auf, es wäre Margo.
Aber sie war es nicht.
«Wer ist es denn?«
Meine Mutter rief aus dem Flur. Schon bog sie um die Ecke.
Herein kam ich. Doch ich war nicht allein.
10
Drei Wochen vergingen. Vorüber zog ein November an der See, grau wie überall nördlich des Meridians. Und ich, im L’Angleterre, weit nördlich davon, was tat ich in der Zwischenzeit?
Nicht viel. Solange die angekündigten Herbststürme ausblieben und es lediglich nieselte, wollte ich Garten, Hof und das Hotel winterfest machen, wie ich es mit Monsieur Flaubert vereinbart hatte. Jeden Morgen, bis die Bäume kahl waren, harkte ich das Laub zusammen, häufte Blätter und Zweige in eine betagte Schubkarre und fuhr alles durch die Pforte auf den Steilhang, wo eine Kompostgrube aus Zement ausgegossen war. Eines Mittags flog lautlos und riesig, keine zehn Meter über meinem staunenden Gesicht, ein einzelner Storch die Küste entlang Richtung Westen. Weil ich Ove Juhls Einsilbigkeit vermisste, zählte ich an seiner statt die Vögel. Kraniche — keine. Reiher — keine. Störche — einer. Auch die Elstern machten sich rar, und selbst Krähen sah ich nur noch wenige in den Schwärmen der Seemöwen, die mir darüber manchmal ebenso verwundert schienen.
So gut wie nichts mehr wuchs in den Beeten. Die Erdbeerblätter wurden gelb und faltig, dann braun, rissig und schließlich stumpfschwarz wie das Erdreich. Im Gerätehaus suchte ich nach Gartenwerkzeugen, fand aber zunächst keine und begann, in der kleinen Werkstatt auszumisten. Im Licht, das durch das Fensterauge und das nur halb zu öffnende Holztor fiel — die andere Hälfte war zugemauert — , entdeckte ich schließlich auch Spaten und Schaufel. Damit grub ich eine Woche lang die im immerwährenden Schatten entlang der Mauer liegenden Rabatten um. Es war meine erste Gartenarbeit seit über vier Jahren, seit ich Ira dabei half, die Magnolie einzupflanzen, die ihr Jesses Pflegeeltern zum zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Ob Lewandowskis Purpurmagnolie noch lebte, wusste ich nicht, aber ich hätte in diesen Tagen viel dafür gegeben, es herauszufinden. Meine Eltern hatten einen Gärtnerdienst mit der Umpflanzung von dutzenden Sträuchern, Stauden und Büschen beauftragt, als sie ihr Haus in Schnelsen aufgaben, um nach Wellingsbüttel in das Haus zu ziehen, in dessen Garage sich ihre Tochter das Leben genommen hatte. In Iras Garten war ich nie wieder gewesen. Herumschaufelnd in den herbstlichen Beeten des L’Angleterre schämte ich mich auch dafür.
In der Novembermitte kamen ein paar Tage, die noch einmal erstaunlich mild waren, weil Südwind die Wolken vertrieb und die Sonne kräftig schien. Ich nutzte die Wärme, um Wände und Fenster der Möwenzimmer zu streichen, und ich freute mich jeder Minute, wenn ich dort oben im Dachstuhl stand, nachdachte und zugleich an nichts dachte und nach Norden auf den Ärmelkanal oder weit südwärts ins Land hineinblickte. Carlo fehlte mir, Maybritts Güte und Fröhlichkeit, das Lachen der Kinder. Die Stille im Hotel, wenn alle in ihre Zimmer verschwanden, war eine andere gewesen. Noch tagelang hatte ich in Maybritts Bett geschlafen, irgendwann aber war sogar ihr Duft verflogen gewesen.
So wie Maybritt Juhl an einem der Möwenzimmerfenster gestanden und mich beobachtet hatte, als ich aus Anniks Wagen stieg, genauso stand ich eines Mittags dort oben, blickte hinunter aufs Kiesbett des Hofs, auf das die Sonne sonderbare Schattenmuster legte, und sah mit einem Mal, dass der schwarze BMW vor dem Tor parkte. Ich ging nach unten, stieg weiter ins Souterrain hinab und fand Annik draußen vor der Küchentür. Sie wartete, begrüßte mich lächelnd mit einem Kuss auf den Mundwinkel. Es war Sonntag, fiel mir ein, der Schrottplatz war geschlossen, und sie hatte frei.
Eine Zeit lang saßen wir in der Küche und tranken jeder ein Glas Perrier. Hübsch sah sie aus, frisch geschminkt, ausgeschlafen. Sie fragte, ob ich mir einen Bart wachsen ließ.
«Ja, vielleicht. «Ich strich mir übers Kinn.»Kommt drauf an. «Ich hatte noch keinen Gedanken an einen Bart verschwendet.
«Worauf denn?«
«Kommt drauf an, ob er weiterwächst, überall, meine ich. Weißt du, mein Bartwuchs hat Lücken, und einen löchrigen Bart will ich nicht.«
Das verstand sie. Sie trank das Wasser, das ähnlich silbern wie ihr Lidschatten und ihre Wimpern funkelte. Ich kannte keine andere Frau mit silbernen Augen. Sie kniff sie zusammen, als sie sagte, eigentlich hätte sie sich denken können, dass mein Bart nicht bloß ein Bart, sondern ein komplizierter Bart war.
«Wollen wir ein bisschen durch die Gegend fahren?«
«Du meinst«, fragte ich,»so wie du und Serge?«
Annik musste lachen, und etwas Perrier rann ihr aus dem Mundwinkel.»Entschuldige … nein — nicht wie Serge und ich!«