Kurz kam ich ins Grübeln, fragte mich, was sie im Schilde führte, ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein, keinesfalls wollte ich über meinen gespenstischen Ausflug nach Cherbourg reden. War sie deshalb gekommen, um etwaige Neuigkeiten über Lilith aus mir herauszukitzeln?
Ich schob die Vorstellung beiseite. Es war schön, sie zu sehen, gut, dass sie zurückgekommen war.
«Du könntest mich auf dem Rückweg in Marigny absetzen. Ich möchte zu gern wissen, ob das Fahrrad noch dort steht oder ob es sich jemand unter den Nagel gerissen hat.«
«Niemand hat es sich unter den Nagel gerissen. Du bist im Bessin. Es steht noch da, ich hab’s gesehen. Und es wird noch in zwei Jahren dastehen, wenn du es nicht abholst«, sagte sie und stand auf. Sie nahm die leeren Gläser und stellte sie in die Spüle.»On y va, M’sieur. Fahren wir ein bisschen rum und hören Musik.«
Tatsächlich, das weiße Fahrrad aus dem Stechginsterbusch lehnte unverändert, wie diesen Morgen dort abgestellt, am Haltestellenhäuschen des Busses, der durch Marigny fuhr. Annik drosselte das Tempo, damit ich es sah und glaubte, kommentierte aber weder mein Staunen noch Schweigen, sondern gab einfach Gas und fuhr weiter.
Schmale Straßen durchschnitten verschlafene Ortschaften, flach im Wind, kaum begonnen, schon wieder vorbei, Dörfer, lang wie ein Gewehrschuss, nannte sie Flaubert — nicht der Schrotthändler, sondern der Schriftsteller. In westlicher Richtung gondelten wir durch den Nachmittag, hörten dabei eine Aufnahme von einem der letzten Joy Division-Konzerte und redeten nicht viel.
Abgesehen von einem Gang zum Briefkasten am früheren Pförtnerhaus war es das erste Mal, dass ich mich seit Cherbourg aus dem Hotel wagte. Unfassbar, wie ich die vergangenen Wochen verbracht, wie wenig ich gegessen, wie selten ich ein Wort über die Lippen gebracht hatte. Eine Songzeile der frühen Genesis hatte mich tagelang verfolgt, als ich das Stück im Radio hörte:»Lilywhite Lilith, she gonna take you thru’ the tunnel of night …«Alle paar Tage sprach ich zwei, drei Sätze mit mir selbst, meistens beim Billard. Es war keiner da, mit dem ich hätte reden können, die Menschen, die ich vermisste, waren weit weg und das Telefon in der Lobby stumm, seit ich es außer Gefecht gesetzt hatte. Als Maybritts Vorräte aufgezehrt waren, ging ich daran, die Speisekammer zu plündern. Seit über einer Woche ernährte ich mich von Knäckebrot aus einer verblassten Großpackung sowie eingewecktem Obst, das in Gläsern schwamm, deren Etiketten irgendjemand beschriftet hatte, als Ira und ich Ende zwanzig gewesen waren und sie noch durch die Welt reiste und ich ihr hinterher.
«Wenn du willst, zeig ich dir was«, sagte Annik, kaum dass wir zur N13 kamen, die über Isigny nach Carentan und weiter nach Cherbourg führte.»Sogar Serge kennt es nicht. Hast du Lust?«
Es war eine Wiedergutmachung, ich nickte. Wir würden also Freunde sein. Ich wusste, sie war oft auf dieser Straße gefahren, meist allein, und Serge pendelte noch viel öfter zwischen Carentan und Bayeux hin und her, immer allein, getrieben von Zeitnot und Furcht, dabei ertappt zu werden, dass er ein Doppelleben führte. Im Grunde ist Annik wie du, dachte ich. Sie wartet, ohne wissen zu wollen, worauf. Wüsste sie es, alles würde vor Unerreichbarkeit stillstehen.
Um Longueville machte die N13 einen Bogen. Ich sah abgeerntete Felder, Knicks, um die sich dutzende Krähen und hunderte Spatzen stritten. Wir waren ein Phänomen, Annik und ich, einfach so draufloszufahren und dabei» Decades «und» The Eternal «zu hören. Was wollten mir zwei über dreißig Jahre alte Lieder sagen, die» Jahrzehnte «und» Das Ewige «hießen? Für Jesse war die Düsternis von Joy Division so pathetisch wie die neoromantische Maskerade der frühen Genesis, eine Pose, und ich fragte mich, ob er nicht recht hatte. Weltschmerz schien es in der Welt der heute Fünfzehnjährigen nicht zu geben, zumindest für Jesse Lee war die Unwiederbringlichkeit der Zeit Tatsache. So war es eben, Schicksal!» Schon zwei Wochen gehe ich jetzt wieder in die Schule, es ist so öde«, stand auf der Karte von Catinka, die seit Tagen im Hotelbriefkasten gelegen haben musste. Die Binnenalster war darauf abgebildet, die große Fontäne, die im Sommer die Leute staunen ließ.»Wie geht es dem Meer? Und sind die Grus schon weggeflogen? Margi hat keine Zeit. Papa ist verreist. Mama und ich haben Dich lieb. «Von Niels und Jesse kein Wort.
Annik wollte mir das Grab ihres Großvaters zeigen, des Vaters ihrer Mutter, von dem sie ein paar vergilbte Fotos und Postkarten kannte, ansonsten aber nur seine letzte Ruhestätte auf dem deutschen Soldatenfriedhof von La Cambe.
Die Novembersonne auf dem Gesicht, spazierten wir über das ausgedehnte parkähnliche Areal. Annik kannte den Weg durch die Gräberreihen, jedes Grab ein stumpfes, niedriges Kreuz, das wie eine Zwischenform aus christlicher und reichsdeutscher Symbolik anmutete und mich beklommen machte. Verbunden durch kleine Gehwegplatten, standen hunderte Kreuze in Fünferreihen überall auf dem vergilbten Rasen, soldatisch akkurat noch im Tod, dachte ich angewidert und erschrak schon im nächsten Moment vor meinem bösen Hohn.
Annik bog von einem der gepflasterten Hauptwege auf den Rasen ab. Vor mir her lief sie übers Gras, nicht über die Platten, und erschüttert begriff ich, weshalb. Die Platten waren die eigentlichen Gräber, es waren Grabplatten, eine für je zwei Tote, viele mit Namen, militärischem Rang, Geburts- und Sterbedatum versehen, immer wieder aber war auf einem Stein nur EIN DEUTSCHER SOLDAT zu lesen.
Im Vorbeigehen las ich Namen von mir unbekannten Toten, überflog dutzende, alle mit demselben Sterbejahr 1944.»Wie viele liegen hier?«, fragte ich Annik, die mich aber nicht hörte. Ohne dass ich es gemerkt hatte, war sie schon fast am Ende der Reihe. Ich blickte mich um, sah am Fuß eines Hügels, auf dem drei große Birken standen, ein altes Paar dahinspazieren, doch ansonsten war auf dem ganzen Gräberfeld niemand zu sehen außer Annik.
«Wie viele Tote sind es, weißt du das?«, rief ich ihr zu, als ich näher kam. Lächelnd wartete sie auf mich und zeigte vor sich ins Gras. Ohne einmal falsch zu gehen, hatte sie das Grab gefunden.
«Es sind einundzwanzigtausendzweihunderteinundzwanzig«, sagte sie, als ich vor ihr stand,»kann man sich leicht merken, die Zahl. Einundzwanzigtausendzweihunderteinundzwanzig und mein Großvater. Darf ich vorstellen?«
«Ein deutscher Soldat «war auf der in den Rasen eingelassenen kreuzförmigen Platte zu lesen, doch darunter Dienstgrad, Name, zwei Daten: Gefr. Kreher, Manfred *19.1.25 † 15.6.44.
«Mit neunzehn«, sagte ich nur.
Annik ging in die Hocke und fing an, Grashalme abzurupfen, die über die Platte wucherten.»Meine deutsche Oma ist vor vierzehn Jahren gestorben, in Braunschweig. Sie war achtzehn, als sie meine Mutter bekam. Manfred Kreher hat seine Tochter nie gesehen, aber wenigstens von ihr gewusst hat er. Am Tag bevor er an die Front geschickt wurde, schickte er eine Postkarte aus Paris, auf der er schrieb, wie glücklich er ist. ›Taumelnd vor Freude stehe ich vor der Église de la Madeleine, liebste Käte. Morgen geht es weiter nach Norden, nach Caen, ans Meer!‹ Er war ein großer stiller Junge, sagte meine Oma immer, und dass er Modelle baute und Kapitän werden wollte.«
«Und weiß man, wie er gefallen ist?«
«Ich hatte gehofft, du würdest das nicht sagen. Ich hasse den Ausdruck. «Sie stand auf, nahm meine Hand und zog mich weg. Wir gingen zurück.»Man weiß nichts Genaues. Nur, dass er bei Montmartin getötet wurde, ›südlich Montmartin-en-Graignes‹, aber wie, wodurch? Meine Mutter hat genau das herauszufinden versucht, als sie Mitte der Siebziger herkam. Sie war dreißig und wollte ihre Doktorarbeit schreiben. Tja, daraus wurde nichts. Mein unbekannter Großvater, unser Schicksal. Denn so kam ich zur Welt. In einem Zeitungsarchiv in Bayeux verliebte sie sich — in den Hausmeister.«
«Du bist Tochter eines Hausmeisters? Ist dir klar, was das bedeutet? Ich, der Übergangshausmeister des L’Angleterre, und du, die Hausmeistertochter, sind füreinander bestimmt! Wir sollten keine Geheimnisse mehr voreinander haben.«