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«Das würde dir so passen!«Sie ließ mich los, lachte und fing an zu rennen, quer über die Grabplatten im Gras hielt sie auf eine Fünferreihe aus schwarzen Kreuzen zu.

Ich setzte ihr nach, erreichte sie aber erst, als sie aufgab und sich außer Atem hinter der Kreuzreihe auf den Rasen fallen ließ. Das Gras war kalt und feucht, als ich mich zu ihr legte.

«Ausgerechnet du musst kommen und einen Mercedes verkaufen«, sagte sie.»Ist das fair?«

Und ich sagte, es sei Vorsehung gewesen, bestimmt hätten die Toten es so gewollt.»Die Gefallenen! Ich hab mich schon oft gefragt, woher der Ausdruck kommt. Von ›Feld‹, oder? Die Soldaten, die ins Feld zogen und dort starben, das sind die Gefallenen.«

«Als hätte jemand sie gemäht, umgemäht«, sagte sie.

Und ich:»Ja. Der Schnitter. Der Sensenmann.«

«Und wir liegen hier, auf ihren Gräbern.«

Annik sah in den Himmel, der leer war, kühl und hellblau. Die Sonne stand schon sehr niedrig, sie flog auf der Stelle, schien warm und kalt zugleich, und sachte ging der Wind, als schöbe er einen Kinderwagen durch die Bäume.

Mein Kopf lag auf ihrem Bauch. Von unten sah ich Annik an, ihre Brust, ihr Kinn, ihre Nase, ihre Wimpern und Brauen.

Ich sagte, dass ich sie gern zeichnen würde.

«Ah ja? Nackt oder angezogen?«

«Deine Augen, nur die. Ganz nah, wie zwei Autoscheinwerfer, ehe man überfahren wird.«

Sie atmete tief ein und schloss die Augen.»Erzähl mir von ihr«, sagte sie.»Ist Lilith …«

«Nein.«

«… ist sie anders als deine Schwester?«

11

Als ich Ende November das nächste Mal mit dem Rad nach Marigny fuhr, traf ich den Hund wieder. Als schiene er auf mich gewartet zu haben, folgte er mir müde über die Straßen voller Schlaglöcher. Noch immer flatterten aus den eingetrockneten Pfützen die Spatzen auf. Blieb ich stehen und drehte mich nach ihm um, dann blieb auch er stehen und behielt mich aus sicherer Entfernung im Auge. Und wenn ich weiterging, trottete auch er weiter, ein verlassener, neugieriger, großer hellbrauner alter Hund, der in eine vage Vorstellung von etwas Besserem versunken schien. Rechtzeitig bevor der Bus kam, wechselte er auf die andere Straßenseite, tat, als wäre er nicht meinetwegen gekommen, und setzte sich.

«Wollen wir abhauen zusammen?«, rief ich von der Haltestelle hinüber zu ihm.»Wenn du willst, komm mit. Na, Grimsel, was ist?«Aber er reagierte nicht. Auf der Skizze zu einem nicht ausgeführten Gemälde, die Carl Philipp Fohr vom römischen Antico Caffè Greco angefertigt hatte, sah man dutzende Maler, Dichter und Zeichner an Tischen sitzen und im Raum stehen, und zwischen ihnen, fast in der Bildmitte, seinen Hund Grimsel, nur ein paar Bleistiftlinien, ansonsten ganz weiß, als wäre er aus Licht. Als ich im Bus saß und losfuhr, sah ich ihn an der Straße stehen und wie er sich langsam wieder auf den Weg machte, dorthin, wo keiner auf ihn wartete.

In der Stadt ging ich ohne Umwege in die erstbeste Bankfiliale. Ein Automat druckte mir den Stand meines Kontos aus. So erfuhr ich, dass meine Exfrau Saskia mein Studio und die Wohnung weitervermietet, die Einrichtung verkauft und mir dafür eine ordentliche Summe überwiesen hatte. Das Konto aufzulösen, gelang mir nicht. Der Bankangestellte hinter dem Schalter musterte mich entgeistert.

«Ich möchte es nicht mehr haben, es soll verschwinden«, sagte ich hilflos auf Französisch und mitten hinein in sein Kopfschütteln. Schließlich hob ich so viel Geld ab, wie mir gestattet war, und legte EC-Karte und Kreditkarten auf den Schalter.»Machen Sie damit, was Sie wollen. «Der Angestellte schob die Karten zu mir zurück, er verstand keinen Spaß. Ich steckte sie ein und lachte ihn aus.

Die ausgezahlte Summe würde meinen Lebensunterhalt für mindestens anderthalb Jahre sichern. Das Geld in die Anoraktaschen gestopft, trat ich ins Freie. Es nieselte nicht länger, sondern schneite schon beinahe, ein Graupelregen, der mich verdrießlich stimmte und frösteln ließ. Ich ging zurück zum Busbahnhof. In einen Mülleimer warf ich alles, was in meiner Brieftasche steckte, EC-Karte, Kreditkarten, Versichertenkarte, Visitenkarten, Führerschein, Ausweis. Ich nahm das Geld aus der Börse und warf die Börse weg. Als ich im Bus saß, fühlte ich mich erstaunlich leicht. Alle kummervolle Bürde verlor also an Gewicht, wenn man begann, niemand mehr zu sein. Ein Kilo wog vielleicht noch vierhundert Gramm, mehr nicht. Die Fahrt zurück nach Marigny dauerte eine Stunde, und ich nahm mir vor, bis dahin einen Plan zu fassen, was weiter mit mir geschehen sollte.

Ich fragte mich, ob es nicht besser war, wenn ich auch aus Frankreich verschwand, wenn ich über den Kanal setzte und nach England ging, wo keiner, wirklich keiner mich kannte und finden würde. Dort verstand man mich wenigstens. In England konnte ich untertauchen, irgendwo auf dem Land leben, vielleicht an der Küste, wo es im Frühjahr schnell wärmer wurde. Und über mein Wiederauftauchen konnte ich mir auch in Bournemouth, oder wo immer es mich hinverschlug, den Kopf zerbrechen. Außer meinen Schuhen, meiner Kleidung, ein wenig Wechselwäsche und dem Haufen Geld, den ich lose bei mir trug, besaß ich nichts. Das Fahrrad stand in Marigny, ich brauchte es nicht mehr. An Maybritts und Catinkas Fenster stehend, blickte ich in den Schnee, der jetzt im Winter auf die Steilküste niedersank, und sah zu, wie Gras, Sand und Erdboden alle die Flocken aufnahmen und schmelzen ließen. So, genau so war es mit meinen Empfindungen. Pausenlos dachte ich nach über Ira, Jesse, meine Eltern, Juhls, Annik und Lilith, doch kam zu keinem Ergebnis, keiner Entscheidung, nicht mal einem Schluss, sondern machte einfach weiter und begann noch einmal von vorn. Ich war überzeugt, noch wenn ich niemand mehr wäre und gar nichts mehr hätte, nicht mal mehr Kleider am Leib, nackt nur daläge im Schnee und allmählich zuschneite, ich würde noch immer sogar verdrängen, dass es überhaupt kalt war.

Ich lenkte mich ab, indem ich meinen Rückzug vorbereitete. Jeden Tag ging ich durch die oberen Stockwerke und reinigte vier, manchmal sogar sechs Zimmer. Ich harkte das letzte Laub zusammen und räumte das Gerätehaus zu Ende auf. Nachmittags sah ich nach, ob Post gekommen war. Die Abende verbrachte ich in der Bibliothek, aß etwas, spielte Billard oder las eine weitere Story von Hemingway und trank dabei den Weißwein, der nicht weniger werden wollte. Erst wenn wieder zwei der Flaschen leer waren, wankte ich in eines der eiskalten Zimmer.

An einem Tag in der zweiten Dezemberwoche stapfte ich über die Schneedecke im Hotelhof zum Pförtnerhaus und fand im Briefkasten eine Ansichtskarte. Sie zeigte ein Schiff auf dem sommerlich blauen Meer, eine alte weiße Fähre, bei deren Anblick ich augenblicklich an die Insel dachte, von der Juhls kamen.

Doch weder Catinka noch ihre Mutter oder ihr Vater hatte die Karte geschrieben. Sie war von Lilith, und als ich ihre Unterschrift sah, drehte ich mit vor Kälte steifen Fingern die Karte noch mal um. Erst da fiel mir der Name am Bug des Schiffes auf: KITTY.

Dieses Schiff, diese Fähre, hatte ich in Cherbourg nicht gesehen. Die Kitty war viel älter. Und trotzdem hatte fast die gesamte Crew, als sie von Bord ging, diesen Namen auf Hemden, Blusen und Mützen getragen.

Liliths Schrift zu sehen, verwirrte mich noch mehr. Ihre kleinen, sauber gesetzten, fast wie gedruckt wirkenden Buchstaben in schwarzer Tinte ähnelten nicht mal entfernt Iras Handschrift. Woher kannte sie meine Adresse? Sie hatte nur wenige Sätze geschrieben, in jedem aber lag die Zurückhaltung, die mich in Cherbourg so verblüfft hatte, und darum verwunderte mich nicht, dass sie mit einer Entschuldigung begann.

«Lieber Markus Lee!«, las ich mit zusammengekniffenen Augen.»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen nachspioniere, aber es war nicht auszuhalten, deshalb habe ich Ihre Freundin Annik angerufen und sie mit Fragen gelöchert.