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Jetzt weiß ich wenigstens etwas von Ihnen und verstehe Sie besser. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Vielleicht … kann ich Ihnen helfen!

Es würde mich froh machen, sehr, wenn Sie mich noch einmal sehen wollen.

Lilith«

Die Zimmer im zweiten Stock, die Juhls, Jesse und ich zwei Monate zuvor bewohnt hatten, waren lange gereinigt und von allen Spuren gesäubert. Noch einmal schritt ich durch die Korridorgalerie und betrachtete, ohne es wirklich zu sehen, dieses oder jenes liebgewonnene Bild. Ich wusste, es war das letzte Mal, dass ich allein hier oben war. Die Abschiede begannen.

In meinem früheren, meinem fast gänzlich leer geräumten ersten Zimmer nahm ich das Bild von der Wand über der Heizung. Das Foto von den Zwillingen steckte hinter Glas in einem alten Holzrahmen, dessen einstiger Goldlack fast überall abgeblättert war. Es brauchte einige Zeit, bis sich die Schwarzweißfotografie herauslösen ließ. Ihre vergilbte Rückseite war bis auf ein paar Bleistiftziffern leer.

Ich steckte Liliths Karte in den Rahmen und hängte das Bild von der Kitty an den Nagel über dem Heizkörper. Dabei dachte ich an nichts Bestimmtes, zögerte nicht, zweifelte nicht, wusste genau, was geschehen würde und dass es nicht zu ändern war. Ich ging hinunter in die Lobby. Ich hauchte dem Telefon neues Leben ein. Ich rief die Auskunft an und brachte es fertig, die Adresse des Supermanche-Fährbüros in Cherbourg-Octeville in Erfahrung zu bringen. Sie schrieb ich auf die Rückseite des Fotos, versah meine Karte mit einer Briefmarke aus dem Heftchen, das Maybritt in der Hotelküche liegengelassen hatte, und setzte mich dort an den Tisch.

Ich schrieb:»Aus welchem Grund sollte ich Sie wiedersehen wollen? Jeder Vorschlag ist ein Rückschlag. Geholfen haben Sie mir bereits, mehr, als Sie ahnen. Ich wünsche Ihnen, was ich mir selbst wünsche, Tag und Nacht ein Gespür für das Glück. Sie waren freundlich, Lilith, dafür danke ich Ihnen von Herzen.«

An der Rezeption klingelte das Telefon, obwohl ich keinen Anruf erwartete und nicht vorhatte, mit jemandem zu reden. Bestimmt war es Annik, die mir beichten wollte, was sie alles ausgeplaudert hatte. Ich ging nach oben, zog den Stecker aus der Holzvertäfelung und lauschte dem Verhallen des Lärms, bis es wieder ganz still war. Annik meint es nur gut, sagte ich mir. Maybritt Juhl — sie meint es nur gut. Und genauso Lilith. Alle meinten es gut mit mir, nur ich selbst, ich meinte es nicht länger gut noch schlecht mit mir, sondern meinte gar nichts mehr. Ich setzte mich in die Bibliothek und fing an zu warten, wartete auf den Abend, holte mir Wein und Brot, aß und trank und wartete auf die Nacht, wartete auf den Morgen und den Mittag. Als der Postbote kam, eilte ich hinaus, lief ihm nach über den verschneiten Kiesweg jenseits der Mauer und drückte ihm das frankierte Zwillingsfoto in die Hand.

12

Wenig später wurde es bitterkalt, und ein so starker Wind wehte über die See, dass ich nur noch selten nach draußen ging. Auch im Hotel trug ich meine beiden Pullover übereinander und zwang mich, den Anorak nur überzuziehen, wenn ich am frühen Nachmittag zum Briefkasten stapfte und anschließend eine kleine Runde drehte. Nur ein einziges Mal kam Post, ein auf winzige Größe zusammengefalteter Brief von Catinka, auf dessen Rückseite sie offenbar mich gezeichnet hatte, mich mit einem Mädchen an der Hand, das eigentlich eine Blume war. Ich trug den Brief eine Weile ungelesen mit mir herum, während ich mich vom Wind durch das Dorf und über den Strand treiben ließ. Erst als ich aus dem Nebeldunst das blasse Gelb des L’Angleterre aufsteigen sah, las ich Cats Zeilen und war erschüttert von der Zärtlichkeit, die sich ausgerechnet an mich richtete.

Die oberen Stockwerke betrat ich nicht mehr. Ich schlief nun in einem kleinen Zimmer in der ersten Etage, das unmittelbar ans Treppenhaus grenzte. Sein Fenster blickte über den Hotelhof und die Mauer hinweg auf verschneite Felder. Es war warm in dem Zimmer und schon früh am Morgen hell. Sobald ich mich dort hinlegte, schlummerte ich ein, und nie, kein einziges Mal, träumte ich schlecht. In dieses kahle Zimmer, mein letztes, hängte ich Catinkas Zeichnung von dem Mann und der Blume, die er an einem Blatt hielt, als wäre es eine Kinderhand.

Ich drückte die Reißzwecken in die Wand, trat einige Schritte zurück und hörte, wie im Hof eine Autotür zugeschlagen wurde. Als ich aus dem Fenster sah, stand unten ein schwarzer Kombi, Anniks oder Serges BMW, dachte ich und ging hinunter.

Ich lauschte an der Küchentreppe, doch es kam kein Klopfen. Noch einmal sah ich hinaus, diesmal vom Parterre aus, und hatte den Wagen unmittelbar vor mir. Es war nicht der schwarze 3er-BMW, sondern ein neuer großer Audi mit Hamburger Kennzeichen. Es klingelte — ein Klingeln, das ich nie gehört hatte. Lärmendes Schellen kam vom Haupteingang und zerschmetterte die Stille des Nachmittags.

Es schellte noch mal, und noch ein drittes Mal. Dann Schritte die Stufen hinab, Schritte durch den Schnee vor den Fenstern nach hinten zum Kücheneingang. Ich schlich die Treppe hinunter, linste um die Ecke zur Tür und sah, draußen, mit hellem Schal und schwarzem Mantel, stand Kevin Brennicke. Er klopfte ans Türglas. Eine Hand an der Scheibe, lugte er herein.

«Markus! Mensch, mach auf! Ich weiß, dass du mich hörst.«

Ich malte mir aus, was passieren würde, wenn ich nicht öffnete. Mir gefiel weder die Vorstellung, dass er im Wagen wartete, dann wegfuhr, dann wiederkam, noch die Vorstellung, dass er einfach abhaute und nicht zurückkam, während ich mich so lange vor ihm versteckt hielt, bis ich endlich auch selbst das Weite suchte.

Er trat einen Schritt zurück.»Komm raus! Das ist echt albern!«

Damit hatte er recht, oder beinahe recht. Es war nicht albern, sondern kindisch, sich vor Kevin zu verstecken. Ich beobachtete ihn, wie er unter dem Carport stand, ratlos, und wie er sich dann umwandte und durch den Hof in Richtung der Pforte ging, die durch die Hotelmauer auf die Steilküste hinausführte. Ich folgte ihm in einigem Abstand durch den leeren Frühstückspavillon. Draußen vor der seewärts gelegenen Fensterfront sah ich Kevin über schneebedecktes Böschungsgras gehen, Hände in den Manteltaschen, Blick zum Himmel erhoben. Ein paar gegen die Kälte immune Möwen bildeten dort oben einen Pulk, aus dem immer wieder eine herabstieß, um diesen Fremden in dem dunklen Mantel auszukundschaften. Kevin trat an eines der Fenster und spähte herein. Aber das Weiß überall, draußen und drinnen, schien ihn zu blenden. Reglos stand ich zwischen abgedeckten Tischen, Stühlen und Sesseln, aber er sah mich nicht.

Er trat vom Fenster weg und blickte lange über den Ärmelkanal. Dann ging er über die Böschung davon, und ich trat zu der Tapetentür und öffnete sie. Ich knipste das Licht an und verschwand in dem Gang zwischen Pavillon und Gerätehaus. Es war eiskalt in der Werkstatt, in der ich zwei Wochen zugebracht hatte, um sie leer zu räumen, auszumisten und so sorgfältig wieder einzuräumen, dass mein Vater es kaum hätte besser machen können. Das bullaugenartige Fenster in dem Schuppen blickte aufs Meer und davor den Sandweg, der den Steilhang zum Strand hinabführte. Dort sah ich Kevin Brennicke gehen, allein und in Gedanken versunken, genau wie ich selber dort ging, seit Juhls und die Kinder weg waren. Man hörte nichts als den Wind und entfernt das Geschrei der Vögel.»Plessen«, dachte ich mit einem Mal,»Plessen oder Klessen«, und ich spürte, wie die Erinnerung in mir widerhallte und wie ihr glockenartiger Ton sich mühte, ein Bild zu werden: die Bunthäuser Spitze.

Ich kniff die Augen zusammen und blickte durch den halbdunklen Raum. Durch die Ritzen um die Torhälfte kam Licht herein und zeichnete ihren Umriss nach. Wie entsetzlich ich mich irrte! Alles in der alten Werkstatt und draußen vor dem Fenster erschien mir wirklich und lebendig, während ich mich fast aufgelöst hatte. Und immer noch setzte ich alles daran, meiner tödlich verzweifelten Schwester nachzustürzen. In meinem Leben kam ich nicht mehr vor, lebte aber zugleich in einer Welt, in der es nichts als Selbstversunkenheit gab und deren einziger Bewohner Markus Lee hieß. Wie war das möglich? Ich fixierte den Lichtumriss des halben Werkstatttors, sah dann durch das Fensterauge in den Dunst über der See, und da wusste ich, wohin ich gelangt war. Ich war am Ende. Bis ans Ende war ich gegangen, durch den letzten schmalen Gang und schließlich in eine dunkle kleine Werkstatt in einem Schuppen am Meer. Das alte Gerätehaus mit der zugemauerten Torhälfte und dem kreisrunden Fenster musste früher eine Garage gewesen sein. Ich hatte sie selbst aufgeräumt und alles darin vorbereitet, aber erst jetzt erkannte ich, zu welchem Zweck.