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Wie licht sein Haar war, wie grau. Und wie faltig, voller Krähenfüße um die Augen, wirkte Kevins Gesicht. Müde, ausgelaugt sah er sich in der Küche um. Ich erinnerte mich an sein Lachen, Leuchten, sein Sprühen und den mich immer öfter abschreckenden Tatendrang, als wir im Hafen bei meinem Lieblingsportugiesen saßen und er mir zum ersten Mal das Brückendossier zeigte. Unmöglich, dass er in einem Vierteljahr so gealtert war und plötzlich wie sein eigener Vater aussah, doch genau so kam es mir vor.

«Meine Güte, du siehst aus, als wärst du grad durch den Kanal geschwommen!«, lachte er und schälte sich aus dem Mantel.»Wieviel hast du abgenommen? Doch sechs, sieben Kilo!«

Er konnte nicht ahnen, dass ich mindestens sechzig Kilo, wenn nicht eine ganze Tonne abgenommen hatte, und ich hätte ihm das kaum begreiflich machen können.

«Tee?«

Er nickte, und ich setzte Wasser auf.

Auch die Küche war inzwischen beinahe leergeräumt. Kevin begutachtete, was auf dem Tisch lag. Interessiert betrachtete er den Stapel verworfener Zeichnungen und Skizzen, die Cat nicht hatte mitnehmen wollen.»Du kannst sie zu Ende malen«, hatte sie gesagt, und auf diesem oder jenem Blatt hatte ich tatsächlich eine Linie fortgeführt oder etwas schattiert.

«Vor ein paar Tagen hab ich mit deiner Mutter gesprochen. Sie erzählte von dem Hotel und der Familie dieses Dänen. Die Bilder sind hübsch. Viel Fantasie, die Kleine. Wie alt ist Catinka?«

Ich antwortete nicht.

Nächste Frage.»Und du, was machst du? Du bist wirklich seit Wochen allein in dem alten Kasten?«

«Orange Oolong, leider ist kein anderer mehr da«, sagte ich und stellte ihm den dampfenden Becher hin.»Ich bin dabei aufzubrechen. In ein paar Tagen will ich verschwunden sein.«

Er lachte.»Na! Für mich oder uns, für ziemlich viele bist du schon seit Längerem verschwunden. Wohin geht’s denn als Nächstes?«

Auch darauf gab ich ihm keine Antwort. Kevin, mein früherer Freund Kevin Brennicke! Mit Bedacht stellte er jede Frage bloß ein einziges Mal. Kein Nachfragen, Insistieren, Bohren. Ich kannte ihn. Ich wusste, wie versiert er war im kaschierenden Smalltalk, im Herauskitzeln von Informationen. Ein klug sich zurückhaltender Klassensprecher war er gewesen, ein zwischen Schülern und Lehrern antichambrierender Schulsprecher. An der Hochschule hatte er Gesprächsrunden geleitet, bis er Nana bat, ihm zu assistieren, und sie alles vermasselte. Ich war nie schlau aus Kevin geworden und fragte mich auch jetzt, wovon er eigentlich ablenken wollte.

«Willst du mir erzählen, dass du elfhundert Kilometer fährst, um rauszufinden, was ich vorhabe?«

«Hab ich nicht gesagt.«

Mühsam lächelnd, mit weit aufgerissenen Augen, suchte er nach der Möglichkeit zu einem Scherz, sah aber nur mich vor sich und verstummte.

«Du hast überhaupt noch nichts gesagt, Kevin, kein einziges Wort. Trink den Tee. Wärm dich auf. Und dann wär ich dir dankbar, wenn du dich wieder ins Auto setzt und abschwirrst.«

Eine Zeit lang standen wir so in der Küche, er am Tisch, ich überall und nirgends, und nippten an zwei heißen Bechern. Ich fixierte ihn, gab mir Mühe, ihn nicht aus den Augen zu lassen, und er spürte meine finsteren Blicke und wich ihnen nach Kräften aus.

Irgendwann sagte er, er sei nicht meinetwegen gekommen.

«Ach nein?«

«Dass man von einem Job abspringt, Markus, weißt du, das kommt vor, öfter, als du denkst. Es gehört dazu, okay. Aber das heißt nicht, dass der Job nicht gemacht werden muss.«

«Der Job muss gemacht werden!«, höhnte ich.

«Diese Brücken, die du nicht machen kannst oder nicht mehr machen willst, sind mir wichtig, und ich glaube, auch ein paar anderen Leuten wären sie wichtig.«

Ernst sah er mich an, der Macher von St: art, da war er.

Ich lachte ihn aus. Ich konnte erst aufhören zu lachen, als nacheinander Erstaunen, Erschrecken und schließlich Erschütterung in seinem Gesicht standen.

«Ausgetrunken, deinen Tee? Dann adieu. Gutes Brückenmachen noch!«

Er starrte in den leeren Becher in seinen Händen, der einzige Abgrund, den er ermessen konnte.

«Du hast dich verändert«, sagte er tonlos, fast bekümmert, sodass ich zum ersten Mal den Jungen von früher in seiner Stimme hörte. Ich wollte nicht an ihn denken, atmete tief ein, schluckte ihn hinunter, und Kevins und Gordys Gesicht, unsere Rucksäcke und die Belgierin in dem Nachtzug verschwanden.

«Ich weiß nicht, wohin du da steuerst, aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, alles über Bord spülen zu sehen und noch mal von vorn anzufangen.«

«Will ich das? Gut, das von dir zu erfahren«, sagte ich.

Und er sagte, es gebe ja wohl nur drei Möglichkeiten.»Entweder macht man weiter, oder man hört auf. Oder man orientiert sich um und fängt was Neues an. Wenn du eine vierte Möglichkeit entdeckt hast, sag mir Bescheid! Solange aber geh ich auf meinem nichtswürdigen beschränkten Weg weiter. Ich habe einen Jungen da draußen.«

«Wie meinst du das, einen Jungen?«

«Na und? Der wollte immerhin.«

«Du meinst, dein Sohn sitzt draußen im Auto?«

Kevin lächelte. Er sah zur Küchendecke und schüttelte den Kopf, wo nur noch dünne graue Strähnen waren, die den nackten Schädel kaum mehr verdeckten. Er war so alt wie ich, Ende vierzig, Familienvater, nie geschieden, so monogam wie ein Biber. Aus dem scheuen Besserwisser von früher war ein gestandener, erfolgreicher Mann geworden, ein Herr, Herr Kevin, Herr Brennicke, mein genaues Gegenteil.

Sein Lächeln war warm, schon immer war Kevins Lächeln besonders warm gewesen. Daran erkannte ich ihn, er war Kevin, trotz der herzkalten Natter, die er geheiratet hatte und bestimmt ganz anders kannte, und trotz des elenden Hochglanzmagazins, dessen elender künstlerischer Leiter er war. Nein, Noah saß nicht draußen und war mittlerweile halb erfroren. Seinen kleinen Sohn hatte er nicht mitgebracht, sondern einen jungen Zeichner. Gestern war er mit ihm in Souleuvre bei der Ruine des Eisenbahnviadukts gewesen, heute hatte er ihn an der Pegasusbrücke abgesetzt, und morgen wollten sie weiter zum Gui und an die Vire. Kevin und sein Zeichner hatten Zeit bis Ende der Woche. Dann mussten vier Brücken gemacht sein.

«Kenn ich ihn?«

«Nein. Wohl kaum.«

«Wieso nicht? Wer ist es?«

«Du kennst ihn nicht. Er ist noch jung, sehr jung, keine dreißig, keine fünfundzwanzig. Etwas fehlt ihm noch das Gespür der Hyäne. Aber woher soll er das auch haben?«

Er nahm Schal und Mantel. Es war ein guter Zeitpunkt, um sich davonzumachen, eine Hyäne witterte das.

«Wie sieht’s aus, alter Krieger, zeigst du deinem Nachfolger die Brücke am Gui? Ehrlich gesagt hab ich die heute stundenlang gesucht und nirgends gefunden. Wie ich dich kenne, warst du schon dreimal da und hast jeden Stein umgedreht.«

Ich würde es mir überlegen, sagte ich.

Und Kevin sagte plötzlich:»Iras Sohn geht’s gut. Jesse und sein Freund, dieser Niels, den du ja kennst, wollen nächstes Jahr Sprachferien in England machen. Sogar einen Job sucht er sich deswegen, sagte deine Mutter. Sie ist übrigens nicht gut auf dich zu sprechen, wirkt ziemlich bekümmert.«