Ich nickte bloß, sah hinaus in den weißen Hotelhof und stellte mir Jesse in England vor, wie er versuchte, in Bournemouth einen Arzt ausfindig zu machen, der mit Vornamen Mati hieß und sein Vater sein sollte.
Meine Attacken schienen Kevin nur munter gemacht zu haben.»Wir übernachten in einer Pension im Zentrum von Bayeux«, sagte er.»Nichts Besonderes, aber nicht schlecht. Was meinst du: morgen Mittag? Ich klingel dich raus. Und wenn du nicht aufmachst, fahren wir halt ohne dich. Komm schon!«
Sein Handy piepte. Er entschuldigte sich und zog das Gerät aus dem Mantel.»Dein Nachfolger!«Kevin wechselte ins Englische. Er ließ sich berichten.»Nach den Erfahrungen mit dir gehe ich auf Nummer sicher«, flüsterte er mir zu. Er lauschte, nickte, schien zufrieden. Der andere solle sich ein Taxi rufen, man treffe sich in der Pension, spätestens zum Frühstück. Morgen gehe es weiter, an die Vire und vielleicht auch zum Gui.
«Sag ihm, du holst ihn morgen Mittag ab«, flüsterte ich.
Handy am Ohr, sah mich Kevin fragend an.
«Du kannst doch hier schlafen. Ich habe fünfundvierzig Zimmer frei.«
Ich zeigte Kevin das L’Angleterre, die ganze abrissfertige Pracht des alten Kastens. Die Leere der Flure, die Höhe der Decken, die alten Teppiche, die Bibliothek mit dem Billardtisch, allem voran aber die Stille und der weite Blick übers Meer verschlugen ihm die Sprache. Ich führte ihn nach oben zu den Möwenzimmern und erzählte von Carlo. Ich zeigte ihm, wo Jesse und Niels gewohnt hatten, erzählte von Juhls, von Margo und von Cat. Immer wieder blieb er in einem der Korridore oder im Treppenhaus stehen und betrachtete die Flut der Bilder, Zeichnungen, Gemälde, Postkarten und Fotografien an den Wänden. So wie ich drei Monate zuvor versuchte er, eine Ordnung, ein Muster, irgendeine Struktur in der zusammengewürfelten Galerie auszumachen, gab es aber bald auf und war nur noch am Staunen. Im zweiten Stock zeigte ich ihm mein Lieblingsbild und erzählte, dass es in meinem ersten Zimmer gehangen hatte.
«He, Sisley!«, rief er.»Eins aus der Serie über die Überschwemmung der Seine bei … hab den Namen vergessen.«
«Port-Marly.«
Und Kevin sagte, es sei ein wundervolles Bild, eines seiner liebsten von Sisley. Das helle Gelb, und dieser rosige Hauch, der über allem liege, dem Wasser, den Bäumen, ein Bild von der Unfassbarkeit des Lichts, das fände ich doch sicher auch.
Dass ich mich immer fragen würde, wie es wohl unter dem Wasser aussehe, sagte ich. Standen da Tische auf dem Platz vor dem Haus des Weinhändlers? War der Platz geschottert, umgeben von Hecken, einer Hecke mit einer Pforte?
«Sieht deinem Hotel ziemlich ähnlich, das Haus dieses A. S. Nicolas, ist dir das schon aufgefallen?«
Nein, das war mir noch nicht aufgefallen. Aber Kevin hatte recht: Das vom Hochwasser umschlossene Weinhändlerhaus hatte Ähnlichkeit mit dem L’Angleterre. Und die beiden Männer, die in dem Kahn standen und langsam an der Hausfront entlangglitten, unterhielten sich. Sie unterhalten sich, dachte ich, genauso wie du dich mit diesem Fremden unterhältst, der einmal dein Freund war und dir heute das Leben gerettet hat.
13
Im Zimmer nebenan schlief Kevin noch, als ich mich anzog und dann in der Bibliothek die Trümmer der vergangenen Nacht wegräumte. Nach einem Spaziergang durch die Dämmerung zum Strand und zum Vogelschutzgebiet hatten wir uns Essen kommen lassen. Die Teller auf den Knien, hatten wir gegessen und die erste Flasche Weißwein geleert, und Kevin hatte erzählt, dass er im Anschluss an die D-Day-Ausgabe in St: art einen Schwerpunkt zu den peruanischen Nazca-Linien plane. Wir spielten Billard und tranken. War eine Flasche leer, ging ich und holte aus dem Keller eine neue. Kevin spielte unkonzentriert, lachte über sich selbst und meinen Ernst, und es schien ihm nichts auszumachen, wenn ich die schwarze Kugel ins Loch senkte, während seine noch fast alle auf dem Filz lagen. Wir leerten eine Flasche nach der anderen, und er konnte nicht aufhören, von den Scharrbildern der Indios im roten Sand der Küstengebirge von Peru zu erzählen. Voller Begeisterung schilderte er Bilder von Tieren und Pflanzen, Bilder, die in acht Jahrhunderten immer abstrakter und größer wurden, bis sie zu Mustern und schließlich kilometerlangen, über die erodierten und verwüsteten Hügelhänge sich erstreckenden Linien angewachsen waren.
Ich meinte, sie vor mir zu sehen, die Scharrbilder von Nazca. Hatte ich nicht sogar von ihnen geträumt? Auf dem Billardtisch lag noch das hellbraune Lederfutteral, in dem Kevins iPad steckte. Ich klappte es auf, berührte den Bildschirm, schon setzte sich vor meinen Augen wieder das Bild zusammen, das er mir in der Nacht zuletzt gezeigt hatte, ein riesiger von zahllosen Linien im rötlich schimmernden Sand durchkreuzter Kolibri.
«Und du hast wirklich aufgehört? Komm schon, Markus, erzähl mir, dass das nicht wahr ist«, sagte er mit ziemlichem Lallen.»Jetzt mal im Ernst: Zeichnest du noch, oder ist damit Schluss?«
«Ich wollte aufhören, aber irgendwie ging es nicht«, antwortete ich und hörte, wie sehr ich selber lallte.
«Ha!«Kevin nahm einen sehr großen Schluck. Mittlerweile hatte jeder von uns seine eigene Flasche.
«Nichts ha!«Ich hob meine an den Mund. Der Wein war kalt und tat gut, er schmeckte nach Wind, Meer und dem L’Angleterre.»Ich zeichne nicht mehr so, wie du meinst, dass ich zeichnen müsste, um mich von dir nach Peru zu irgendwelchen in den verbrannten Sand gescharrten Kolibris schicken zu lassen«— ein schwieriger Satz, aber ich bekam ihn hin, und darauf trank ich.
Kevin wollte wissen, wie viele Brücken ich gezeichnet hatte, und ich sagte es ihm:»So viele, wie du Augen hast.«
«Und wo, Leonardo, sind die zwei Zeichnungen? Hast du die Blätter noch?«
«Vergessen«, versuchte ich zu sagen.
Und Kevin:»Gegessen? Er hat sie gegessen!«
Wir tranken, lachten, tranken, bis die Flaschen leer waren, und darüber lachten wir so lange, bis ich aufstand und davonwankte, um aus dem Wunderweinkeller zwei neue zu holen.
In der Tür stehend schrie ich:»Es gibt keine Blätter! Nicht mal Skizzen gibt’s! Ich hab die Pegasusbrücke gezeichnet und die Brücke am Gui, ja! Aber ausstellen oder vervielfältigen oder was auch immer kann die Zeichnungen niemand, auch du nicht, Brennicke, du peruanische Ratte!«
Und Kevin hatte noch gelacht.»Klar! Auch ich nicht! Keiner! Wozu denn? Er hat sie gegessen.«
Damit war er in seinem Sessel zusammengesackt und liegen geblieben, die Beine seltsam verdreht. An die hin und her schwankende Billardzimmertür geklammert, hatte ich ihn gefragt, ob er nicht noch eine halbe Flasche mittrank. Alles wegspülen, die Zeit, die Schmerzen, den Kummer, die Nacht.
«Komm schon, Alter! Lass uns nicht von morgen quasseln. Erzähl mir, wann du das letzte Mal von Gordy gehört hast!«
Aber da war Kevin längst eingeschlummert.
Als ich die leeren Flaschen und den Müll aus der Bibliothek hinunter in die Küche trug, kam Kevins Schatten aus seinem Zimmer und schlich über den Korridor ins Bad. Ich fragte ihn, wie er es ins Bett geschafft hatte, und er antwortete, er könne sich nur erinnern, dass er gekrabbelt war, endlos weit auf allen vieren gekrabbelt, bis er mein hell erleuchtetes Zimmer gesehen hatte.
Wir verabredeten, in Bayeux zu frühstücken, das heiterte ihn etwas auf. Er verschwand unter die Dusche, und ich schnappte mir den Müll und sah erst, als ich ins Freie trat, dass es die ganze Nacht hindurch geschneit haben musste.
Die Luft war kalt und klar, und nur ein schwacher, ein ablandiger Wind blies. Unter meinen Schuhen knirschte der Schnee, als ich die Müllsäcke in die Tonne warf und die Tonne nach draußen vors Tor zog. Jetzt ist es Winter, dachte ich und sah im Kasten nach, ob Post gekommen war. Ein einzelner Brief lag darin, ein gelber, von Hand beschrifteter Umschlag mit meinem Namen darauf. Es war ein Brief von Lilith — »Lilia Muller «hatte sie auf die Kuvertrückseite geschrieben, und darunter ihre Adresse in Cherbourg-Octeville.