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Ich nahm den Brief, steckte ihn in die Anorakinnentasche und ging, ohne es zu merken, über den verschneiten Kiesweg in Richtung Dorf weiter. Wo der Heckenweg begann und die Straße nach Bayeux abzweigte, kam mir eine dick eingemummelte Frau entgegen, und kurz darauf bemerkte ich im Schnee auch den großen weißen Hund, dem der halbe Schwanz fehlte. Es war die Frau, die Jesse und ich am Abend gesehen hatten, als wir im L’Angleterre angekommen waren, der erste Mensch aus dem Ort. Wir nickten uns zu, und sie ging weiter. Aber ich blieb stehen. Ich blinzelte in das blendende Licht, atmete tief ein, spürte die Luft in den Lungen und dachte an Ira: Zufall, Sprache der Welt!

Dann riss ich den Umschlag auf. Ein doppelseitig beschriebener Bogen Papier steckte darin, aber auch eine Postkarte, die gleiche, diesmal unbeschriebene Karte, die das alte Fährschiff zeigte. Langsam ging ich zum Hotel zurück und las.

«Lieber Markus, Sie finden mich hoffentlich nicht aufdringlich, wenn ich Ihnen noch einmal schreibe. Ich könnte es mir selbst nicht verzeihen, ließe ich Sie einfach ziehen, ohne wenigstens versucht zu haben, Sie von meinem Vorschlag zu überzeugen. Lassen Sie ihn sich doch bitte durch den Kopf gehen, bevor Sie mein Angebot ablehnen. Es kommt von Herzen — und ich hätte gern Gelegenheit, Ihnen zu erzählen, warum.

Von Annik Sorel weiß ich um Ihre Lage. Sie schämt sich, mir so vieles von dem weitererzählt zu haben, was Sie ihr anvertrauten. Seien Sie bitte nicht wütend auf sie. Etwas, das ich selber nicht erklären kann, ließ nicht locker, bis ich alles — nein, das stimmt nicht — , bis ich vieles von Ihnen wusste.

Vielleicht die Elsässerin in mir! Ich bin in den Vogesen aufgewachsen, im Ban de la Roche — dem Steintal — , wo es nur Bäume und Schafe gibt und die Leute seit Jahrhunderten arm sind und weg wollen. 1988 machte ich Ferien am Ärmelkanal, lernte jemanden kennen, blieb hier. Ich fand Arbeit bei dem Fährbüro in Cherbourg, fing an, mit Schiffen nach England zu fahren. Kennen Sie sich, Sie sind ja Hamburger, mit Fähren aus? Wie so vieles werden sie immer größer und schneller. Hunderte Sicherheitsvorschriften! — mein Beruf. Alte Fähren rentieren sich nicht mehr, man mustert sie aus, verkauft sie nach Afrika oder verschrottet sie.

Mein Vorschlag, jetzt kommt er: 25 Jahre lang fuhr ich fast täglich mit der Kitty von Cherbourg nach Poole und wieder zurück, oft sogar zweimal, dreimal am Tag. Die Kitty wurde außer Dienst gestellt, eine Tragflächenfähre verkehrt jetzt auf ihrer Route, und es hat sich kein Käufer für sie gefunden. Sie ist ein gutes Schiff, ein heiteres, fröhliches, ob Sie das verstehen? In drei Tagen geht sie auf letzte Fahrt, in Cherbourgs Schwesterstadt Bremerhaven wrackt man sie ab, und ich werde dabeisein, um sie zu überführen.

Ich würde mich freuen, wenn Sie mitkämen. Von Bremerhaven nach Hamburg ist es nicht weit, mit dem Zug nur anderthalb Stunden! Ich könnte Sie fast nach Hause bringen — könnte Ihnen erzählen — von mir — und Sie mir — von sich. Es wäre eine gute letzte Reise.

Lilith«

Kevin saß in der Küche, schon in Mantel und Schal, vor sich das Lederfutteral und seine Autoschlüssel. Mit glasigen Augen blickte er durch mich hindurch und stöhnte. Warum war ich so munter? Wieso hatte ich keinen Brummschädel, anscheinend ja nicht mal leichte Kopfschmerzen, wollte er wissen, und ich zuckte bloß mit den Schultern, sagte, ich hätte drei Monate Zeit gehabt, um mich mit dem Wein aus der Gruft des L’Angleterre anzufreunden, sagte aber nicht, dass ich jedes Mal, wenn ich in den Keller gegangen war, um ein oder zwei neue Flaschen zu holen, auch ein Glas Leitungswasser getrunken hatte. Ich stellte ihm eines hin. Funkelnd spiegelte sich der blasse Schneehimmel darin, so lange bis Kevin das Wasser nicht mehr nur ansah, sondern es hinunterstürzte.

«Gib mir fünf Minuten«, sagte ich, ließ ihn am Tisch sitzen und stieg hinauf in den ersten Stock. Ich zog Kevins Bett ab, dann meines, warf die Wäsche in den Wäscheschacht im Badezimmer und schloss dort und in unseren Zimmern die Fenster.

Vor den Bildern im Korridor überlegte ich, doch kam auf nichts, was ich hätte mitnehmen müssen. Was noch mir gehörte, trug ich bei mir oder war Teil meiner Gedanken. Ich brauchte kein Andenken einzustecken, spürte ja, als Souvenir der Zeit im L’Angleterre nahm ich die Leere mit, und wusste endlich auch, sie war gar keine Leere, sondern Abwesenheit. So, wie mir alles zerbrochen erschienen war, vermisste ich jetzt jeden, nicht nur die Kinder, meine Eltern oder Juhls. Auf einmal war ich wieder zu allem Möglichen unterwegs, und dass ich nicht wusste, was mich erwartete, vergrößerte nur meine Neugier.

War der junge Flieger je im L’Angleterre gewesen? In seinem Buch hatte McCoy Lee das Hotel, das für ein paar Monate nach dem D-Day britische Offiziersunterkunft geworden war, nicht erwähnt. Er war kein Offizier. Dennoch hatte er vielleicht im Hof gestanden oder war mit Kameraden in der Küche verköstigt worden, während alles auf den nächsten Marschbefehl wartete.

In der Bibliothek stellte ich die Billardqueues in den Ständer. Auf dem Lesetisch lag der Hemingway-Band. Ich schob das Buch ins Regal. In der Lobby setzte ich das Telefon in Gang, lauschte in den Hörer, hörte das Freizeichen. Ich ging in die Küche und sah Kevin draußen am Auto telefonieren. Ich spülte sein Wasserglas aus, trocknete es ab und stellte es zurück in den Schrank.

14

Vorbei an weißen Feldern und tief verschneiten Waldstücken fuhren wir in die Stadt. Kevin kam nur langsam zu sich, während ich mich fragte, wie der Junge, der auf uns wartete, es wohl anstellen wollte, die Brücken zu zeichnen. Auf Äckern und Böschungen lag der Schnee knöchelhoch, vielerorts hatte starker Wind für kniehohe Schneewehen gesorgt. Am Gui und an der Vire war jedoch im Sommer und Hochsommer um die Brücken gekämpft worden. Für die Zeichnungen, wie Kevin sie sich vorstellte, schien die Verrückung der Jahreszeit unerheblich zu sein.

Ich bat ihn, einen kurzen Abstecher zu machen, und zeigte ihm den Weg durch den dichten Verkehr in den Bayeuxer Vororten. Erst als wir aufs Gelände von Flauberts Autohof fuhren, fiel mir ein, dass Sonnabend war und Annik an Wochenenden nicht arbeitete, sondern ausschlief und Serge entgegenfieberte. Dennoch stand ihr BMW vor dem Verkaufspavillon.

Kevin blieb im Auto sitzen und wendete, und ich stapfte die beschneiten Stufen hinauf zum Eingang, klopfte ans Türglas und trat ein. Nur der junge Flaubert war da, weder sein Vater noch Annik. Didier war erstaunt, mich zu sehen, boxte mir erfreut auf den Arm und erzählte sofort, dass er den Mercedes verkauft hatte, nie und nimmer würde ich erraten, an wen.

«Ist sie da?«, fragte ich ihn, und er stutzte, ehe er den Kopf schüttelte und lachte.

«Urlaub«, sagte er nach Luft japsend auf Englisch.»Sie hat ein paar Tage freigenommen und ist weggefahren. Mit Ihrem Wagen!«

Wenn Didier lachte, trat sein ausgefrästes Nasenbein sehr deutlich und schön hervor. Ich fragte mich, wer es zustande gebracht hatte, so punktgenau auf die Nase einzuschlagen.

«Ich habe etwas für Ihren Vater. Können Sie ihm die geben, bitte, und ihm in meinem Namen danken?«

Ich gab ihm die Schlüssel für Hoftor, Gerätehaus und Kücheneingang des L’Angleterre. Didier nahm den Schlüsselbund und versenkte ihn kommentarlos in seiner Nadelstreifenweste.

Ich bat ihn, Annik zu grüßen.

«Werd ich machen.«