«Sagen Sie ihr, in dem Mercedes funktioniert die Heizung nicht richtig.«
«Weiß sie. Es war ihr egal.«
Er sah mich an.
Ich sah ihn an.
Es gab nichts weiter zu sagen.
«Geben Sie mir ein Blatt Papier und einen Stift bitte.«
Ich wartete ab, bis er beides auf den Tresen legte, dann begann ich ohne Zögern zu zeichnen. Didier sah mir zu. Ich zeichnete Anniks Augen, nur Pupillen, Lider, Wimpern, Brauen und Übergang von Nase zu Stirn. Es dauerte keine Minute. Als ich fertig war, schob ich ihm das Blatt hin und bat ihn, es ihr zu geben.
«Werd ich machen«, sagte er wieder nur, hörte aber nicht auf, die Zeichnung zu betrachten.
Ich bat ihn um ein weiteres Blatt. Darauf zeichnete ich seine Nase, ihren Rücken, der in der Mitte abbrach und zu einem Krater abfiel. Auf dem Kratergrund stand ein kleiner schwacher Glanz.
«S’il vous plaît. Pour vous.«
Didier stutzte, dann lachte er. Er verschluckte sich, hustete, lief rot an und lachte trotzdem immer weiter.
Halb verhungert machten wir uns in der Pension, die ein kleines, exquisites Hotel im Zentrum war, über das Frühstücksbüfett her. Kevin trank drei Tassen Kaffee, dann endlich ließ ihn die Migräne aus den Fängen und kehrte auch seine Neugier zurück. Wieder wollte er wissen, was ich auf dem Schrotthof gemacht hatte, aber auch diesmal antwortete ich nur ausweichend und sagte ihm bloß die halbe oder ein Viertel der Wahrheit. Ich hatte etwas abgegeben. Der Mutter und der Tante des alten Schrotthändlers gehörte das L’Angleterre, noch zumindest, denn Flaubert und Sohn waren drauf und dran, das Hotel an einen Amerikaner zu verkaufen.
Sein Smartphone piepte. Er nahm es, stand auf und ging zum Telefonieren in den Wintergarten. Nana, dachte ich.
«Der Junge will es wirklich wissen!«Kevin setzte sich wieder. Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass er von dem jungen Zeichner redete. Erst da fiel mir ein, dass wir mit ihm verabredet waren. Ich hatte nicht mehr an ihn gedacht, ihn nicht vermisst, ich kannte den Jungen ja nicht, für mich gab es ihn gar nicht.
Er hieß Schuh. Schuh hatte sich schon früh am Morgen nach dem Gui erkundigt und sich den Weg zu der alten Steinbrücke schildern lassen, dann ein Taxi gerufen und war hingefahren.
«Tja, und jetzt ist er schon fast fertig«, sagte Kevin. Selbst er konnte sein Staunen nicht verhehlen.»Eine Stunde braucht er noch, dann ist auch der Gui gemacht. Fehlt noch die Vire-brücke. Willst du seine Zeichnungen sehen? Schuh hat sie heute Morgen gemailt. «Er klappte das Lederfutteral zurück. Hellblau leuchtete sein iPad auf.
«Nein, sagte ich,»lass mal lieber.«
Ich aß ein paar Bissen, hatte aber keinen Appetit mehr. Kevin erzählte, er habe Schuh über Nanas früheren Doktorvater kennengelernt. Ihr alter Prof hatte zu einem Abendessen Zeichnungen eines jungen Chinesen mitgebracht und sie ihm kommentarlos vorgelegt.
«Einen chinesischen Teenager lässt du Brücken des D-Day zeichnen — du bist wirklich vollkommen irre.«
Kevin freute sich, wie er sich immer ein Loch in den Bauch freute, wenn er alle überraschte. Das war wohl das Höchste für ihn, etwas Besseres hatte das Leben nicht zu bieten.
«Du rauchst gar nicht mehr«, sagte er. Nach fünfzehn Stunden war es ihm doch noch aufgefallen.
«Nein. Hab’s seinlassen.«
Keine Frage nach Gründen oder meinem Befinden. Seit wir uns kannten, hatte ich immer geraucht, schon auf dem Campingplatz am Atlantik mit Gordy, als wir alle sechzehn gewesen waren.
«Na komm, mein Alter, lass uns. Wir holen Xu am Gui ab, ich nehm deine geheime Brücke kurz in Augenschein, und dann düsen wir an die Vire. Bist du dabei oder bist du dabei?«
«Schwätzer«, sagte ich, und er grinste und boxte mich auf den Oberarm, auf genau die Stelle, an der ich noch Didiers Faust spürte.
Der Audi fräste sich durch den Schnee, bis einige hundert Meter vor der Brücke die Wehen zu hoch wurden. Kevin wendete und parkte, dann stiegen wir aus und folgten Xus Spuren den Uferweg entlang.
Über die tief verschneiten Felder blies eisiger Nordwind. In der Ferne sah ich die weiße Brücke, wie sie das kaltgraue Flüsschen überspannte, kahle Knicks und Kopfweiden, und manchmal segelte eine tief fliegende Krähe vorbei und rief nach ihren Artgenossen, die sich irgendwo verborgen hielten.
Von dem jungen Xu waren nur die Fußspuren zu sehen, sie führten zur Brücke, zurück vom Gui kamen keine.
Wir waren fast da, als Kevin noch einmal von Flauberts Autohof anfing. Während ich in dem Verkaufshäuschen gewesen sei, habe er sich ein bisschen auf dem Gelände umgesehen. Da habe ein alter Bootsanhänger in einer offenen Garage gestanden, und unter der Persenning sei ein wunderschönes Boot gewesen, eine alte Jolle, ganz aus Mahagoni, allerdings in erbärmlichem Zustand.
«Ich wünschte, ich hätte Zeit«, sagte er und blieb stehen. Er sah nicht mich an, sondern blickte über die Felder und fixierte einen Punkt in der Ferne.»Stell dir vor, du, Jesse, sein Freund und ich haben so ein altes Segelboot. Das zerlegen wir, setzen es Stück für Stück wieder zusammen. Wir machen es flott, und irgendwann segeln wir damit über die Ostsee.«
Er sagte das nicht mit seiner üblichen unaufhaltsamen, alles niederwalzenden Euphorie, sondern fast wie zu sich selbst, still und verträumt.
«Da ist er«, erwiderte ich möglichst tonlos, insgeheim aber froh, von dem Thema ablenken zu können. Vor uns lag die Brücke, im Schnee sah sie vollkommen anders aus. Der junge Herr Xu musste unter dem Brückenbogen gewesen sein, dort, wo die wilde Müllkippe war und an der Mauer aus Feldsteinen meine Zeichnung. Xu hatte eine grüne Pudelmütze auf dem Kopf und auffallend kräftige Augenbrauen. Über die Böschung zu uns heraufkletternd, suchte er nach Halt und musste immer wieder in den fast kniehohen Schnee greifen. Auch in seiner freien Hand sah ich keinen Block, keinen Stift.
«Quinfan!«, rief Kevin und winkte Xu Quinfan zu.»Na egal. Nur so ein Jungsding. «Seufzend schob er mit der Schuhspitze ein bisschen Schnee zusammen.»Ich wollte dir wenigstens von der Idee erzählt haben. Dieses Mahagoni … unfassbar schön.«
Die Fahrt hinüber ins Département Manche dauerte eine Stunde. Ich fragte mich, ob das hinter mir auf der Rückbank schlotternde Talent vielleicht sogar im Dunkeln zeichnen konnte, so wie man es Kaspar Hauser nachsagte. Denn schon in zwei Stunden begann es zu dämmern, und keiner wusste besser als ich, dass die Winterabenddämmerung ein rascher und kaum merklicher Übergang war, ehe sich stockfinstere Nacht über die Normandie senkte.
Für Kevin schien es jedoch kaum ins Gewicht zu fallen, ob seinem durchfrorenen Shanghaier Eleven vierzig Minuten blieben, um die letzte Brücke zu zeichnen, oder nur eine halbe Stunde. Er hatte so wenig Zweifel an Xus Fähigkeiten, wie er die meinen je angezweifelt hatte. So rauschten wir über die N13 in Richtung Carentan. Kevin legte eine CD von Amy Winehouse ein und unterhielt sich mit dem verstockten, vielleicht auch bloß zurückhaltenden Jungen über systemkritische chinesische Maler und Zeichner, die er in St: art vorstellen wollte. Warum hatte ich Kevin Brennicke in all den Jahren nie abgenommen, dass er seine Zeit mit etwas Sinnvollem verbrachte?
Es fing schon an dunkel zu werden, als er einräumen musste, dass er sich vertan hatte. Die fehlende Brücke führte gar nicht über die Vire. Im Marschland zwischen Isigny und Carentan lag eine ganze Reihe von im Juni ’44 heftig umkämpften Brücken. Xu reichte mir Kevins Lederfutteral nach vorn, und ich las von dem iPad die Passage in dem Dossier vor, die von vier über das Flüsschen Douve führenden Brücken handelte. Sie lagen nordöstlich von Carentan, und es gab einen erhöht liegenden einstigen Bauernhof, von dem aus man alle vier im Blick hatte. Fallschirmjäger und Gleiterinfanteristen der 101. US-Luftlandedivision hatten die vier Douve-Brücken zu sichern und zugleich den Bauernhof zu stürmen versucht, auf dessen Gelände sich die Deutschen verschanzt hielten und mit Mörsergranaten die ganze Nacht vom 10. auf den 11. Juni die Brücken eindeckten. Ich erinnerte mich an die Beschreibung. Kevin hatte auch mich um eine Zeichnung gebeten, die von der Anhöhe mit dem früheren Bauernhof den Fluss, die Brücken, das Marschland und in der Ferne die Silhouette der Stadt überblickte.