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Die Schlacht um Carentan hatte sechs Tage gedauert. Erst am 15. Juni war die Stadt von den Allierten eingenommen worden, dem selben Tag, als wenige Kilometer weiter südlich Anniks Großvater getötet wurde.

«Okay«, sagte Xu von hinten. Er brauche drei Minuten, die aber ungestört und für sich. Ich ließ mir nichts anmerken, weder Skepsis noch Staunen, und genauso wenig sah ich in Kevins Miene eine Regung, als wir im letzten Licht die verschneite Anhöhe hinauffuhren und oben auf ein verlassenes weißes Plateau kamen, das vielleicht ein Parkplatz war oder nur ein gefrorener Acker. Keine Mauer, Zäune oder Geräte, nicht mal Überreste oder Schrott, rein gar nichts wies darauf hin, was hier einmal gestanden hatte und vor siebzig Jahren passiert war.

Xu Quinfan zog erneut die Mütze über die dunklen Borstenhaare und stieg wortlos aus. Kevin ließ den Motor laufen. Wir blieben sitzen und sahen zu, wie der Junge davonstiefelte, die Hände in den Manteltaschen. Er war klein, schmal, ein ernster junger Mann. Was für stechende Augen! Ein paarmal hatte ich von hinten seine Blicke fast wie ein Glühen auf der Wange gespürt und mich gefragt, wie Kevin mich wohl vorgestellt und was er von mir erzählt hatte. Die auf die Pegasusbrücke und unter die Brücke am Gui gesprayten Zeichnungen waren Xu mit Sicherheit aufgefallen, doch erwähnt hatte er sie in meiner Gegenwart mit keinem Wort.

Ohne Eile stapfte er durch den Schnee bis zum Rand des Plateaus. Dort blieb er stehen. Es sah aus, als würde ein Film einfrieren.

«Hast du eine Vorstellung, wie er das macht?«, flüsterte Kevin.»Ist doch absolut irre.«

«Er memoriert«, sagte ich.»Wahrscheinlich zeichnet er aus der Erinnerung. Und ich glaube auch, du wirst nichts auf Papier von ihm kriegen. Er arbeitet am Schirm. Er ist selber einer.«

Keine drei Minuten waren vergangen, als er zurückkam. Inzwischen war es fast dunkel, nur der Schnee ließ noch Umrisse erkennen. Die Tür ging auf, Xu stieg ein. Ich drehte mich zu ihm um und sah, dass er weinte. Kevin fuhr los, ohne ein Wort zu sagen, bis die Anhöhe hinter uns lag.

«Und jetzt, wohin?«, fragte er, als wir bei Saint-Côme zurück zur N13 kamen.»Was meinst du: Lädst du Quinfan und mich in deine Möwenburg ein?«

Kevin schlug vor, dass wir uns Essen holten, Xu sich zurückzog, um zu zeichnen, und wir inzwischen nachsahen, wie viel Wein noch da war.

«Ich möchte mit dir unbedingt über diese Jollenidee reden. Ich krieg das einfach nicht aus dem Kopf.«

«Weißt du noch, die Bunthäuser Spitze«, sagte ich,»unser Spaziergang mit Ira und Jesse?«

Und er sagte:»Gott, das ist zehn Jahre her, oder?«

Und ich:»Über dreizehn. Erinnerst du dich an das Boot, das du damals umgetauft hast?«

Kevin erinnerte sich nicht.

«Klessen hieß es, oder Plessen. Du hast mit deinem Messer zwei Buchstaben weggeritzt und Jesse draus gemacht.«

Er schüttelte den Kopf.

«Seit dreizehn Jahren frag ich mich, wieso«, sagte ich.

Er wusste es nicht. Die Vorstellung machte ihn stolz, aber er konnte sich nicht daran erinnern.

«Ich fahr nicht zum Hotel zurück. Ich muss nach Cherbourg«, sagte ich.»Wenn du mich in Carentan zum Bahnhof bringst, kann ich den Zug nehmen.«

15

Der Brückenauftrag war erledigt. Die St: art-Nummer zum D-Day, die Kevin meinetwegen um drei Monate verschoben hatte, konnte zum Jahresanfang erscheinen, und ich hatte dazu beigetragen, wenn auch anders als geplant und anders als erwartet. Im Zug nach Cherbourg merkte ich erst, wie dankbar ich Kevin war und wie froh, ihm wenigstens aus der Bredouille geholfen zu haben. Er hatte keine Fragen gestellt, ich mit keinem Wort Lilith erwähnt. Doch seine Angebote rührten mich, ich empfand seine Nähe, auch sein Bedürfnis nach Nähe, zum ersten Mal seit Urzeiten als wohltuend, und ein wenig vermisste ich ihn und seinen undurchschaubaren jungen Chinesen sogar, während ich wieder allein durch die Dunkelheit fuhr. Draußen lag der Schnee auf Feldern und Dächern, und die Nacht sickerte herab und sank darüberhin, dicht und dichter, doch sie hatte nichts Bedrohliches.

Cherbourg war die letzte Wegscheide. Als ich zum Hafen hinunterlief und übers Funkeln der nächtlichen Reede blickte, sah ich die beiden Möglichkeiten, die sich nun boten, deutlich vor mir.

An der Pier lagen zwei Schiffe, beide über Nacht fest vertäut, beide verlassen und dunkel. In einiger Entfernung lag die Kitty, die am nächsten Tag zum letzten Mal auslaufen sollte. Unmittelbar vor mir, wo die jetzt hochgeklappte Rampe für Pkw und Lkw hinunterführte und wo ich Lilith zum ersten Mal gesehen hatte, lag längsseits festgemacht an der Hafenpromenade die Tragflächenfähre, von der sie in ihrem Brief schrieb. Das neue Fährschiff hieß ebenfalls Kitty. Am nächsten Tag, wahrscheinlich schon frühmorgens, fuhr die Kitty II über den Ärmelkanal nach Poole, nach England.

In einem Bistro an einem abgelegenen, mit überschneiten Platanen bestandenen Platz aß ich etwas zu Abend und las noch einmal Liliths Brief. Auch die Ansichtskarte von der Kitty, die sie noch mal mitgeschickt hatte, zog ich aus dem Umschlag, lehnte sie an die Weinkaraffe und trank, während ich auf das von dem Schiff durchpflügte blaue Wasser sah. Ich betrachtete die Fotografie und stellte mir vor, den Augenblick mitzuerleben, als das Bild aufgenommen worden war. Ich malte mir aus, dass unter den Menschen, die auf der Überfahrt nach Poole den Helikopter mit dem Fotografen gesehen hatten, auch Lilith gewesen war, ein Tag vor zehn oder fünfzehn Jahren, der Tag vielleicht, als Ira, Kevin und ich mit dem kleinen Jesse und seinem Bobbycar an der Bunthäuser Spitze spazieren gingen. Lilith lief mit Helm, Sicherheitsschuhen und Walkie-Talkie durch das Schiff, auf den Parkdecks zwischen Autos, Bussen und Lastwagen hindurch, sie stieg hinunter in den Maschinenraum und wieder hinauf und lief immer weiter durch ein Labyrinth aus stählernen Gängen, in dem sie jeden Winkel so gut kannte wie ich im L’Angleterre jeden Flur, jedes Zimmer. Ich merkte, wie die Traurigkeit sich anschlich. Mir kamen die Tränen, und mit einem Mal verstand ich, warum der junge Xu geweint hatte. Das Gedächtnis verlangte einen hohen Preis, um sich etwas einzuprägen, und einen noch höheren, damit es dasselbe wieder vergaß.

Ich bat um die Rechnung und fragte die Bedienung nach einem Hotel oder einer Pension in Hafennähe, wo man auch ohne Papiere ein Zimmer bekam. Meine Brieftasche sei mir gestohlen worden, genug Geld aber hätte ich, sagte ich zu der freundlichen, dick geschminkten Kellnerin und zog ein paar Scheine aus dem Anorak. Sie kniff die Augen zusammen und glaubte mir kein Wort. Ich gab ihr ein unverschämt hohes Trinkgeld, und sie gewährte mir dafür einen Blick in ihr unaufgeräumtes Herz.

«La belle Kitty!«Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf die Ansichtskarte wie mit einem Zauberstab.»Warten Sie. Ich sehe nach, ob etwas frei ist. Gegenüber haben wir Fremdenzimmer.«

Zehn Minuten später stand ich im dritten Stock am offenen Fenster und blinzelte durch den vom Himmel stürzenden Schnee die Straße hinunter zum Hafen. Die schöne Kitty! — da lag sie im Dunkel der Nacht und war ein verrostetes Omen.

Noch einmal blauer Himmel. Über Cherbourg schien die Wintersonne, und die Luft hatte eiskalte und gleich daneben ganz warme Kammern, durch die ich wohlig tauchte, als ich am nächsten Morgen vorbei an eingeschneiten Autos, die wie am Straßenrand liegengelassene Rieseneier anmuteten, zum Hafen hinuntereilte. Die Kitty war nicht mehr da. Sie hatte abgelegt, während ich in meinem Fremdenzimmerbett durch den Nebel der Träume sonst wohin getrieben war.