Выбрать главу

«Wir sieben. Und das Schiff«, sagte ich.»Die Kitty gibt es ja auch. Alles, was einen Namen hat, zählt.«

«Stimmt. Noch ist sie da!«

Ihr Walkie-Talkie schnarrte. Sie fragte nach, ob sie irgendwo gebraucht wurde, doch es kam keine Antwort.

«Wahrscheinlich sind wir jetzt einer weniger«, sagte sie.»Gerade dürfte der französische Lotse von Bord gegangen sein. Also doch sieben — wir sechs und die Kitty

Die Leere der jedes Geräusch zurückwerfenden Korridore und das durch die nackten Fensterfronten hereinfallende blasse Licht ließen mich mehr und mehr schaudern. Wohin wir auch kamen, überall auf dem alten Fährschiff war es eiskalt, denn eine Heizung gab es an Bord nicht mehr.

«Letzte Woche ausgebaut«, sagte Lilith.»Rausgerissen. Wie die Kombüse, die Fahrstühle, die Fernseher, die Hydraulik der Autodecks und fast die ganze Elektrik.«

Sie zuckte mit den Achseln.

Manchmal sah sie so traurig aus wie Séverine Laudec, doch wie ihre Freundin überspielte sie den Kummer und wischte ihn lächelnd beiseite.

«In meine alte Kajüte hat Claude ein paar Heizlüfter gestellt. Wenn Sie müde sind, können Sie sich da hinlegen. Es gibt eine Koje, ist ganz bequem. Und Essen und was zu trinken. Oder haben Sie Schlaf und Nahrungsmittelzufuhr auch aufgegeben?«

Guck an, ein Sticheln.

Ich sagte, ich würde eine Ausnahme machen.

Noch immer erinnerte sie mich an Ira, allmählich aber gewöhnte ich mich daran, und je länger ich Lilith beobachtete, desto mehr Unterschiede fielen mir auf. Diese Mütze! Wann nahm sie die endlich ab.

Was mir mit jeder Minute mehr zusetzte, war nicht die Vorstellung, zwanzig Stunden in dieser Kälte durchstehen zu müssen. Es war etwas anderes, und ich wusste oder ahnte zumindest, es hatte mit Liliths Frage nach meinen Sachen zu tun. Warum hatte ich nichts bei mir, ich halber Mensch, nicht wenigstens zwei, drei Habseligkeiten?

Hände in den Anoraktaschen, blickten wir bugwärts durch ein Panoramafenster in den Spätnachmittagsdunst über dem Kanal. Es dämmerte. Die Kitty pflügte durch die grauen Wellen, und Lilith redete von Landmarken, den Leuchttürmen, Kirchtürmen und Fabrikschornsteinen, an denen sie sich seit fünfundzwanzig Jahren Tag für Tag auf der Überfahrt orientierte. Wir folgten der Küste in nordöstliche Richtung. Rechts lag die Seinebucht, große und kleine Frachter waren dort nach Le Havre unterwegs oder kamen von da. Voraus warteten die Klippen von Étretat, die Somme-Mündung, Boulogne und Calais. Der Bessin — viel zu weit weg, von Arromanches oder Caen war nichts zu sehen, und das L’Angleterre nur eine Ahnung, bloß noch Erinnerung. Im Westen aber, viel weiter weg, ein schmaler dunkler Strich knapp überm letzten Funkeln auf dem Meer, lag die Küste von Südengland.

«Da drüben liegt Poole«, sagte Lilith und zeigte hinüber in das Flimmern, sodass ich ihr Profil nah vor mir hatte, ihr Ohr (anders als Iras), ihr Kinn (Iras), die Nase (Iras), ihre Stirn (die mir höher vorkam und die Lilith kaum je in Falten legte). Zum ersten Mal versetzte ich mich in sie hinein, und sofort wurde mir klar, wie verloren einer wie ich mit seinen leeren Händen auf sie wirken musste.

«Und die Stadt neben Poole, ist das Bournemouth?«

Sie nickte, bloß einmal (wie Ira).

«Ja, genau. Rechts daneben, sehen Sie den weißen Streifen? Das sind die Kalkfelsen der Isle of Wight. Waren Sie mal da? Die Insel ist wundervoll.«

«Als Mädchen war meine Schwester in Bournemouth«, sagte ich und kniff sofort die Augen zusammen.»Eine Sprachreise. «Ich machte die Augen auf und sah, wie Lilith das Gesicht abwandte.

«Bestimmt war sie auf der Insel«, sagte sie.»Von Poole und Bournemouth ist es bloß ein Katzensprung. Kommen Sie.«

Wir stiegen die Haupttreppe hinunter. Auch sie hatte keinen Teppich und kein Geländer mehr. Lilith mit ihren Sicherheitsstiefeln und dem Anorak, in dessen Brusttaschen das Funkgerät und eine Taschenlampe steckten, ging voraus und ich ihr nach, frierend und versunken in düstere Gedanken. Genauso wird es im L’Angleterre sein! Sie werden alles rausreißen, dachte ich, und im Hof wird ein Berg aus Müll und Gerümpel liegen. Du wärst besser dortgeblieben. Verbarrikadieren hättest du dich sollen, anstatt mit einem Schrottdampfer in ein genauso schrottreifes Leben zurückzufahren.

Wir waren fast am Fuß der Treppe, als das Walkie-Talkie erneut schnarrte. Diesmal ertönte eine verzerrte Männerstimme, offenbar Claudes, der Hunger hatte. Wir seien gleich bei der Kajüte, antwortete Lilith, dann bringe sie das Maschinistenessen.

«Helfen Sie mir, Markus«, sagte sie im selben Moment, als ein langgezogenes Dröhnen durch die Fähre ging.»Für schweren Seegang ist sie nicht gemacht. Aber der geht gleich vorbei.«

Gemeinsam wuchteten wir eine Feuerschutztür auf. Dahinter war nichts, Schwärze, ein so unwägbar großer, finsterer Raum, als hätte die Kitty die Nacht in ihren Bauch geladen.

Liliths Taschenlampe ging an. Ihr Lichtkegel wanderte über Stahlwände, den stählernen Boden. Alles war weiß, sah ich und wusste, wir waren auf dem Lastwagendeck, im Eisstadion. Es war riesig, leer und so kalt wie in einer Gefriertruhe.

Sie stand dicht vor mir, ihr Gesicht im Halbdunkel.

«Sehe ich ihr wirklich so ähnlich?«, sagte sie nicht sehr laut, und trotzdem hallte die Frage in der Kälte von den Wänden wider.

Und ich sagte:»Ja. Oder nein. Ich weiß nicht. Es spielt auch keine Rolle, nicht mehr.«

«Dieses Schiff«, sagte Lilith,»es ist egal, wie alt es ist und wie es jetzt aussieht. Und es ist sogar egal, wenn es in ein paar Tagen in Bremen oder Bremerhaven in kleine Teile zersägt wird. Was zählt, ist die Zeit, die wir mit den Dingen verbringen, findest du nicht? Die ganzen Jahre, die Kitty-Jahre, hin und her, und hin und her, Cherbourg und Poole, Poole und Cherbourg! Weißt du, hier, auf der Fähre, hab ich meinen Mann kennengelernt, und mit der Kitty ist er nach England gefahren und dortgeblieben. Bon! Ich hab hier an Bord Menschen getroffen, und ich hab das Meer gesehen. Weißt du, was ich möchte?«

«Nein. Sag’s mir.«

«Schrecklich! Wir sehen aus … wie Geschwister. Wie Bruder und Schwester. Ich bin fast umgefallen, als du, als ich dich …«

«Aber wir sind’s nicht.«

Ihre Hand drückte meine, und sie war so warm, so heiß wie in meiner Erinnerung.

«Lass uns was essen. Danielle hat für jeden von uns eine kleine Henkersmahlzeit vorbereitet«, sagte Lilith.

Und ich sagte:»Kannst du die Taschenlampe anlassen und dafür das Walkie-Talkie ausmachen? Komm her zu mir. Bitte.«

18

Ihre frühere Kajüte lag in einem der unteren Decks fast auf Höhe der Wasserlinie. Bis auf eine Koje mit einer grünen Wolldecke und ein Tischchen, auf dem mit Alufolie abgedeckte Pappteller, eine Thermoskanne, Wasserflaschen und Plastikbecher standen, war der Raum leer. Er erinnerte mich an die Zimmer im L’Angleterre, auch wenn es dort große Fenster gab anstatt eines Bullauges, das sich selbst mit einem Schraubenschlüssel nicht würde einschlagen lassen.

«Tapas und Salate von Danielle. «Lilith nahm vier Teller und Becher und zwei der Flaschen.»Die anderen warten. Ich bin der Essenslieferservice für Brücke und Maschinenraum! Nur darum haben sie mich mitgenommen, weißt du.«

In zwanzig Minuten wollte sie zurück sein. Ich sollte mich ruhig etwas hinlegen, mich aufwärmen.

Ich hatte es mir schon gedacht, aber jetzt wusste ich, sie machte diese letzte Fahrt nicht um der alten Zeiten willen, der Kitty-Jahre, sondern einzig meinetwegen.